Adam
vor dem Gesetz
Zur
Entzifferung eines imaginären Chaos
‒ Denis
Villeneuve: «ENEMY»
(2013) ‒
Inhalt
1.
Filmplot 2
2.
Filmkritik 3
3.
Verwirrspiel 6
4.
Klinisches 6
5.
Angst 8
6.
Phobisches 9
7.
Schizo 14
8.
Verwerfung 16
9.
Feindliches 17
10.
Zirkuläres 19
11.
Ausweg 20
12.
Literatur 23
«Quand
je suis née,
mon
père n’était déjà plus là.»
Sibylle
Lacan, 1994
«We
build houses and they shape us.»
Winston
Churchill
«Wer
zwei Frauen hat, verliert die Seele.
Wer
zwei Wohnungen hat, verliert den Verstand.»
Éric
Rohmer: Les
nuits de la pleine lune,
1984
Der
Film «ENEMY» von
Denis Villeneuve verunsichert schon bei der Schreibweise des Titels:
Warum steht da ein schräggedrucktes N?
Wir müssen mit Sigmund Freud sogleich konstatieren: «Etwas
ist also da nicht in Ordnung.» (Sigmund
Freud: Hemmung, Symptom und Angst,
1925/26) Zusätzlich gibt uns der Filmvorspann ein geheimnisvolles
Prinzip mit auf den Weg, von dem wir nicht wissen, ob es überhaupt
Licht ins Dunkel bringen kann: «Chaos is
order yet undeciphered.»/«Chaos
ist die noch unentschlüsselte Ordnung.» Immerhin
aber könnte es sein, das uns die Psychoanalyse
dabei helfen kann, das «Chaos» ein wenig zu ordnen. ‒ Ob uns das
gelingt, wird sich dann am Ende zeigen.
1.
Filmplot
Inmitten
einer von einem Sandsturm überwölbten und durch vielerlei matte
paintings überlagerten modernen Stadtansicht
von Toronto folgen wir der verzweigten und sich überkreuzenden
Geschichte zweier Männer ‒ oder vielleicht auch nur eines
einzelnen Mannes, der das eine Mal als melancholischer
Literaturlehrer nebst Freundin, das andere Mal als drittklassiger
Schauspieler und Macho nebst schwangerer Ehefrau auftritt. Der Lehrer
Adam Bell (Jake
Gyllenhaal) – ein „Adam“
also ‒ scheint weder mit seinem Beruf noch mit seinem Leben als
nicht sehr passionierter Lover seiner Freundin Mary
(Melanie Laurent) in einer asketischen Studenten-Höhle
zurechtzukommen. Da trifft es sich gut, dass ihn ein Tipp eines
Kollegen auf die Spur (s)eines Doppelgängers namens Daniel
Claire alias Anthony Saint Clair bringt, der
sich in billigen B-pictures
als Hotelpage oder als Macho Brot und Bett verdient. Klarheit
(„clair“) soll ihm
dieser Doppelgänger nun in sein eigenes Leben bringen… «Wo
ein Wille ist, ist auch ein Weg», nennt sich
der Filmteaser und gibt damit auch das Motiv der eigenen Sinnsuche
vor: die Welt als Wille und Vorstellung! ‒ Von den äußerlichen
physischen Merkmalen beider Männer ist es zunächst vor allem die
STIMME, die auf eine
Identität beider Figuren verweist. Bestätigt wird das anlässlich
eines Telefonats mit der Frau von Anthony, Helen
(Sarah Gadon): sie ist sich sicher, dass ihr, den Fremden spielender
Ehemann durch diesen merkwürdigen Anruf sie zum Narren halten will.
Die Wohnung liegt in einem dieser von modernen gesichtslosen
Plattenbauten überladenen städtischen Schlafviertel, die allein
durch ihre Austauschbarkeit leicht zu verwechseln sind: Wie oft lesen
wir von Menschen, die aus Versehen oder Trunkenheit in der falschen
Wohnung gelandet sind! Hochhäuser, Appartements sind genau wie die
darin hausenden Menschen leicht ver- und auswechselbar. Schon der
Gang durch die Unterführung von Adams Hochschule zeigt serielle
Graffitis ewig gleicher, anonymer Stadtbewohner, die für diese
Stadtlandschaften maßgeschneidert vorgefertigt werden und
entsprechend identitätslos dahinkümmern. Freilich führt die
verstörende Penetranz, mit der sich Adam nun ins Familienleben von
Anthony einschleicht, schließlich doch dazu, dass Anthony zu einem
gemeinsamen Treffen in einem anonymen heruntergekommenen Hotel
einlädt, bei dem sich nach der stimmlichen nun auch die perfekte
physische Identität beider herausstellt: bis hin zur Narbe an der
Brust gleichen sich beide! Differenzen bestehen nur in austauschbaren
Details: Kleidung (hautenge Lederjacke‒weitgeschnittenes Sakko),
Gefährt (Motorrad‒Mittelklassewagen), Links- und Rechtshändertum
und ‒ nicht zu vergessen: der beringte und unberingte Finger als
Zeichen eines Eheversprechens. (Besonders durch dieses Merkmal lassen
sich ‒ bei genauerer Sicht ‒ die Filmwege beider Protagonisten
durch alle Verwicklungen und scheinbaren Überlagerungen hindurch
unterscheiden.) Ja selbst die differenten Gemütsverfassungen beider
erinnern an austauschbare Kleidungsstücke ‒ passiver Melancholiker
vs. hyperaktiver Macho ‒, die zusammen mit den
outfits an- und abgelegt werden können. Die
zugriffsfreudige Aggressivität bei Anthony wie auch jener
lästig-düster-verhaltene Selbstzweifel Adams werden zudem eher von
den recht unterschiedlichen Partnerinnen induziert, als dass man sie
einem persönlichen Charakterzug dieser Männerklischees zurechnen
könnte. Beiden Männern gemeinsam ist wiederum das Gefühl der
Bedrohung, dass durch ihre Begegnung das jeweilige Leben immer mehr
aus dem Gleichgewicht zu geraten drohen könnte ... Adams Mutter, zu
der immer noch ein intensives Verhältnis besteht (um die enge
Verbindung zwischen Adam und seiner Mutter in der deutschen Version
etwas zu verbrämen, antwortet die Mutter noch am Telefon mit
«Darling» in der deutschen Fassung, während im Original der Name
«Adam» erscheint), bestätigt ihm, dass es vollkommen
ausgeschlossen ist, dass etwa ein Bruder existieren würde. ‒ Die
Beziehung von Adam/Anthony zu den beiden Frauen (der Geliebten und
der Ehefrau) ist beherrscht von eher schwermütiger hektisch-passiver
Ambivalenz, in die sie die unterschwelligen Untreueverdächtigungen
der jeweiligen Partnerinnen verfallen lassen; besonders die mögliche
Entdeckung, der Möchtegern-Macho suche wegen der Schwangerschaft
seiner Frau seine libidinöse Befriedigung anderweitig, nimmt das
männliche Selbstbewusstsein doch sehr gefangen... ‒ Als dann der
Schauspiel-Macho in einem Anfall von Rache am ‒ vermeintlichen ‒
Nebenbuhler (vgl. Anthonys Spielart des „pater
semper incertus“: «Did
you fuck with my wife?!») dem hilflosen Adam
eine Landpartie mit dessen Freundin Mary aufnötigt und sich zugleich
seiner Kleider und seines Wagens bemächtigt, wird der gehemmte Adam
aus seiner melancholischen Selbstbespiegelung gerissen und zur
Selbsthilfe gezwungen: seinerseits schlüpft er nun in die Rolle
Anthonys und dringt in dessen leere Wohnung ein; die bald darauf
zurückkehrende Helen scheint sofort die „andere“ Identität des
unheimlichen Hausgenossen (um nicht zu sagen: „Hausvaters“)
zu ahnen, geht aber rücksichtsvoll, und dennoch nicht ungern auf das
scheinbare Doppelspiel ein und fragt zudem ganz un-hintergründig
nach dem Verlauf seines Tages „an der
Schule“… Nach kurzem Nachdenken scheint
sich Adam seiner ‚neuen Rolle‘
zu fügen, währenddessen im Radio von einem Autounfall die Rede ist,
der zur Sperrung der Autobahn um Toronto geführt hat. Nur der
Zuschauer weiß, dass es der Unfall des andern Paares war, das nach
einem Streit (Mary zweifelt an ihrem Geliebten, weil dieser ihr die
unberingte weiße Stelle seines Ringfingers präsentiert) im Auto den
Heimweg angetreten hatte und ‒ tödlich? ‒ verunfallt ist. ‒ Im
Schlussbild geht Adam seiner schwangeren Frau im ehelich-heimischen
Schlafzimmer nach und begegnet dort dem unheimlichen
überdimensionalen Kopf einer Spinne…
2.
FILMKritik
Neben
diesem wahrhaft verwirrenden männlich-allzu-männlichen
Problemkomplex tun Bild, Schnitt und Musik des Films ein Übriges, um
den Zuschauer zu desorientieren: Die Filmmusik kündet Unheimliches;
die zunächst zusammenhangslos erscheinenden Schwenks über eine mit
austauschbaren Plattenbauten bestückten und von Stromleitungen
durchzogenen, im gelblichen Staub eines Sandsturms versinkende
Megalopolis ‒ ein verfremdetes kanadisches Toronto ‒, die
Kamerafahrt über leere Plätze oder durch dunkle Gänge und ‒
nicht zuletzt ‒ die drohend über der Stadtlandschaft schwebende
Riesenspinne lassen die Zuschauer wie auch die meisten Filmkritiker
verstört zurück. Zwar kann sich niemand der Atmosphäre des
Unheimlichen, die dieser Film ausstrahlt, entziehen, doch am Ende
findet so gut wie niemand zu einer Deutung, die für diese
merkwürdige Umsetzung des bekannten Doppelgängermotivs eine
schlüssige Erklärung liefert. Und so ist es nicht weiter
verwunderlich, wenn die Kritiken den Film zwar durchaus für
sehenswert halten, die Entfaltung des Sujets aber nur mit Abwehr zur
Kenntnis nehmen: «Der
Thriller ist durchzogen von einem nahezu undurchdringbaren
Symbolismus …» (Antje Wessels in mehrfilm)
Oder: «Klassische Kinotugenden wie
Identifikation und Spannung werden zwar nicht außer Kraft gesetzt,
aber der direkte Zugang zu ihnen wird doch irgendwie erschwert bzw.
von anderen „Lesarten“ durchkreuzt»,
beklagt sich der Filmkritiker Nikolaus Perneczky. Und beim Vergleich
des Films mit der Romanvorlage von José Saramagos «Der
Doppelgänger» kommt eine andere Kritik zum
Schluss: «Doch
leider muss ich mich jetzt doch in die Reihe der Buchverfechter
eingliedern. Das liegt nicht nur daran, dass «Enemy» einer der
wenigen Filme ist, den ich trotz erhöhter Aufmerksamkeit nicht
sofort verstanden habe, sondern vor allem daran, dass das von
Saramago virtuos aufbereitete uralte literarische Motiv des
Doppelgängers zu einer Feindbildmontage verkommt, die am Ende auch
noch mit einer „Moral von der Geschicht‘“ um die Ecke kommt.»
(Buchbesprechung zu José Saramagos «Der
Doppelgänger» in Wikipedia vom 11.6.2014)
Dass
ein Kritiker einen Film «nicht sofort
verstanden» hat, mag der Indifferenz zu
verdanken sein, mit der mehr oder weniger professionelle Filmkritiker
dem Objekt ihrer beruflichen Pflicht gegenübertreten. Manchmal mag
auch der Zeitdruck ausschlaggebend sein; denn der nächste Film
wartet schon und zu denkerischer Nachbereitung des letzten bleibt
keine Zeit. Hier sind die Kritiker durchaus dem gewöhnlichen
Kinogänger ähnlich, der einen Film vom schnellverdauten Popcorn,
das er beim Sehen mampft, weder unterscheiden kann noch will.
Hinter
der Verweigerung ist freilich ein anderes und nicht selten
anzutreffendes Vor-Urteil zu entdecken, nämlich das abendländische
Fantasma, nur verschriftete und zwischen zwei Pappdeckel gepresste
Literatur sei die eigentliche, die «wahre» Vertreterin von Kunst:
eine schnelle Denunzierung der vermeintlich „sekundären“
Kunstform gegenüber dem sog. „originären“ Vorbild. Das
Vorurteil ist unausrottbar und gründet auf dem
historisch-chronologisches Missverständnis, alle tradierten Künste
– Literatur, Malerei, Skulptur, Musik, Architektur ‒ fußten auf
dem Ursprung der griechischen Antike, und ein moderner Neuankömmling
wie der Film (die Fotografie profitiert immerhin noch von der
Malerei) könne daher nur ein Falschmünzer sein, der sich zu Unrecht
den Namen ‚Kunst‘
zu erschleichen trachtet. Diese Fehleinschätzung kulminiert in der
seit der Moderne unaufhörlich aufgeworfenen Frage nach dem, was denn
eigentlich [heute] Kunst sei: Nicht von ungefähr wird diese Frage
immer wieder begleitet von der anderen landläufigen Abqualifizierung
„moderner“ Kunst in toto:
«Das soll Kunst sein!? Das kann ich auch!»
‒ Etwa beim Anblick jener berühmten «Brillo»-Boxen
von Warhol oder dem Pissoir von Duchamp…
Klar
aber ist, dass ein Vergleich Literatur/Film nur dann sinnvoll ist,
wenn dem Spezifischen des filmischen Kunstwerks Rechnung getragen
wird. Film gründet immer auf Literatur ‒ und sei es nur, dass für
gewöhnlich nach einem Drehbuch
gearbeitet wird, das mehr oder weniger literarischen Kriterien Genüge
tut. Je enger sich allerdings ein Film an die Schrift anlehnt und zu
dessen Double wird, desto weniger ‒ so scheint es mir jedenfalls ‒
öffnet er sich für das Besondere des Filmischen. Deshalb sind z.B.
einige von Alfred Hitchcocks Literaturverfilmungen (Daphne du
Maurier: «Die Vögel»
oder Cornell Wollrich: «Rear Window»
u.a.) vor allem deshalb so ‚gelungen‘,
weil die Vorlagen im eigentlichen Sinne „Kurzgeschichten“ sind,
die dem Visionären des Regisseur genügend kreativen Freiheitsraum
lassen. Hinzu kommt allerdings beim Film noch etwas, was ihn von der
herkömmlichen Sicht auf Kunst wesentlich unterscheidet: der Film ist
im Gegensatz zu den meisten anderen Kunstwerken immer schon ein
kollektives Kunstwerk,
das man nur aus alter Gewohnheit einem einzigen Individuum zurechnet,
dem man im Deutschen die Bezeichnung „Regisseur“/‚Leiter‘
oder „Filmemacher“
gibt; im Amerikanischen wertet man ihn zusätzlich auf zum „director“
‒ ‚Lenker, Vorschreiber‘,
während man im Französischen bescheidener nur von einem
„réalisateur“
spricht, d.h. von jemandem, der etwas ‚in
die Wirklichkeit umsetzt‘ oder gar von
einem parallel zum Theater gedachten „metteur
en scène“, d.h. von einem ‚Inszenierer‘.
Jake
Gyllenhaal… und Jake Gyllenhaal!
Spätestens
bei der Sichtung der «Extras»
auf der DVD-Version von «ENEMY»
(Interviews von Denis Villeneuve, Jake Gyllenhaal, Isabella
Rossellini u.a.) wird klar, dass der Film zwar auf einer Idee von
José Samaragos «Der Doppelgänger»
basiert, aber im Verlauf des Filmdrehs die Anregungen gemeinsamer
Diskussionen von – mindestens ‒ Jake Gyllenhaal und den anderen
Schauspielerinnen und Schauspielern mit eingeflossen sind, da wohl
den meisten Beteiligten ‒ und auch dem Regisseur? ‒ im Voraus
nicht immer ganz klar schien, wie das seltsame Doppelgängermotiv im
Film zu begründen, zu interpretieren und filmisch umzusetzen sei.
Gyllenhaal spricht sogar davon, dass in diese Figur sowohl seine
eigene Erfahrung ‒ als Mann, sollte man ergänzen ‒ wie auch die
des Regisseurs – als Vater? ‒ mit eingeflossen seien. Und selbst
das unbefangene Interview mit Isabella Rossellini ‒ in der Rolle
von Adams Mutter ‒ enthüllt, dass auch sie innerhalb des Drehs
sowie noch danach nicht immer klar zwischen den Filmprotagonisten
«Adam» und «Anthony»
zu unterscheiden wusste! Villeneuve forderte offenbar von seinen
Schauspielern fast Unmögliches: nämlich zu spielen, als ob der
männliche Protagonist sowohl EINE wie auch
ZWEI Personen sei. ‒ Dass dieses ebenso
Un-Entscheidbare wie
auch Un-Darstellbare
seine Spuren beim Zuschauer hinterlässt, muss nicht weiter
verwundern.
3.
Verwirrspiel
Villeneuve
führt uns durch eine Allee, gesäumt von Bäumen von Alfred
Hitchcock (Vertigo),
David Lynch (Mulholland Drive),
Stanley Kubrick (Eyes Wide Shut)
bis zu Roman Polanski (Rosemaries Baby),
aber auch von Franz Kafka (Der Hausvater;
Gregor Samson, Vor dem Gesetz)
oder E.T.H. Hoffmann (Der Sandmann),
um das Doppelgänger‐Motiv
in einer neuzeitlichen, durch die immer gleichen
Wolkenkratzer‐Architekturen
vollgestellten modernen Großstadt plausibel zu machen: die Totale
auf die Stadtarchitektur, der der Zuschauer ‒ und unser Adam
‒ von Anfang an ausgeliefert ist, trägt in dieser Hinsicht mehr
dazu bei, dass neben der myriadenhaften Existenz am Reißbrett
entworfener Stadtarchitektur‐Doubletten
das Auftauchen eines menschlichen (hier: männlichen) Doppelgängers
letztlich nicht weiter überraschen muss: Warum sollte die
fließbandgefertigte Stadtmöblierung nicht auch zur Vervielfachung
der in ihr hausenden Menschen führen? – Das Heidegger’sche „man“
war schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Folie, der Kokon, auf
die bzw. in der sich das angstvolle Subjekt der Moderne immer hat
zurückziehen können ‒ zurückziehen müssen? Und seien wir
ehrlich: eine Begegnung mit einem Doppelgänger/einer Doppelgängerin,
sagen wir der Einfachheit halber, samstags etwa auf einer
überbevölkerten ZEIL
in Frankfurt, würde uns wohl wenig überraschen. Allein die ähnliche
und austauschbare Möblierung der Fußgängerzonen, der Kauftempel
und der sich mit immer denselben Kleidermarken ausstaffierenden
Menschen trägt täglich dazu bei, dass wir uns nicht nur morgens im
Spiegel, sondern auch nachmittags auf der Einkaufsstraße oder im
Bürokomplex in einem anderen wieder begegnen. Die – dadurch
ausgelöste? ‒ Gier nach Unterscheidung (sc. Identität) endet dann
meist im nächsten Kaufhaus auf der Suche nach den neuesten
Distinktionsobjekten, die uns die Modeindustrie vorhält. ‒ Von
daher bedarf es aller schauspielerischen Anstrengungen nicht nur des
Hauptdarstellern Jake Gyllenhaal, sondern vor allem auch der ihn
einrahmenden drei Frauenfiguren, um den Eindruck
von Unheimlichkeit auch fürs Publikum noch
irgendwie spürbar zu machen; ja es scheint sogar, dass selbst die
Protagonisten Adam und Anthony erst durch die Erregung der
Partnerinnen ‒ d.h. von außen ‒ von der ungewöhnlichen Existenz
eines Doppelgängers emotional berührt worden sind. Dass das
„Unbewusste außen“ ist, wie Jacques Lacan postuliert hat, wird
zum Ereignis.
4.
Klinisches
Der
Film konfrontiert uns mit der Überlagerung gleich dreier, zunächst
disparat erscheinender klinischer Motive: das Motiv
des Doppelgängers, welches das Subjekt als
Spielball psychotischer und schizophrener Kräfte vorführt; das
Motiv der Vaterschaft,
welches das Subjekt der unausweichlichen Frage aussetzt: «Was
ist ein Vater?»; und das phobogene
Motiv der Spinne, dem das Subjekt nach der
Passage aller Motivkomplexe am Schluss konfrontiert bleibt und mit
dem der konsternierte Zuschauer schließlich nach Hause, an den
heimisch-unheimlichen Herd entlassen wird. Alle drei Motive
entwickeln sich zunächst anhand von Adams Außenkontakten, nähern
sich im Laufe der Filmerzählung immer mehr seiner ehelichen Wohnung
und verschmelzen am Schluss in einer Art Metabolismus
am heimischen Herd bzw. im ehelichen Schlafzimmer. Als metaphorische
Klammer wird der Weg des Protagonisten zusammengehalten vom Motiv
der Spinne, die schon unmittelbar nach
Filmbeginn in einer Art Traumszene auftaucht und nach und nach
bildlich-szenisch immer weiter in den Vordergrund rückt. Der Begriff
des Metabolismus
vermag uns einen Hinweis auf das geben, was im Verlauf der
Entwicklung der adamitischen subjektiven
Identität geschieht: «Als
Stoffwechsel oder Metabolismus … bezeichnet man die Gesamtheit der
chemischen Prozesse in Lebewesen. Diese biochemischen Vorgänge
dienen dem Aufbau und der Erhaltung der Körpersubstanz
(Baustoffwechsel) und damit der Aufrechterhaltung der
Körperfunktionen. Wesentlich für den Stoffwechsel sind Enzyme, die
chemische Reaktionen beschleunigen und lenken (katalysieren).»
(Wikipedia vom 25. 11.
2016)
Selbstverständlich
ist ein solcher bio-chemische Prozess im Rahmen einer künstlerischen
Produktion nur metaphorisch
zu nehmen. Dennoch verweist die Definition nicht nur auf das Begehren
nach der „Erhaltung der Körpersubstanz“ und auf
lebensgeschichtliche „Enzyme“ als Katalysatoren der
Identitätssuche, sondern auch auf ein durchaus logisches
Endergebnis, das durch das Zusammenspiel mehrerer Faktoren zustande
kommt: Doppelgänger, Vaterschaft und Phobie fließen am Ende in
eins; freilich ohne als simple Auflösung der Konflikte wahrgenommen
werden zu können; das Schlussbild der überdimensionalen Spinne im
ehelichen Schlafzimmer entlässt wohl die allermeisten Zuschauer in
derselben Verstörung wie den Filmhelden selbst.
Helen
(gr. hélê): Sonnenglanz
Und
hier mag es durchaus erwähnenswert sein, wenn eine Filmkritikerin
namens Anna Li angesichts des schicksalsergebenen Adam sich am Ende
zu folgendem Resümee veranlasst sieht: «Adam
und Anthony sind nichts als dieselbe Person. Adam ist mit Helen
verheiratet und hat eine Maitresse, Mary. … Die Spinne stellt die
Schwangerschaft Helens dar…, was Adam aus der Bahn wirft, weil er
sich wegen seiner Untreue schuldig fühlt. … Adam ist sein eigener
„Feind“/“Enemy“». (Critique
Cinéma 3.3.2014)
Doch:
auch wenn diese übereilte und etwas kurzschlüssige Hypothese prima
vista als roter Faden dienen kann ‒ und
dabei weit über die Hilfslosigkeiten anderer FilmkritikerInnen
hinausgeht ‒, so bleibt dennoch die Frage, wie es dem Filmregisseur
im Detail gelingt, die drei Motive zu einem Kondensat
zusammenzuführen, das Unheimlichkeit
verbreitet. Das Postulat einer einfachen Metapher reicht da zur
Erklärung nicht aus.
5.
Angst
«Die
Angst ist das, was nicht täuscht.»
Jacques
Lacan
Gehen
wir also bedächtiger und genauer vor, um dem doch komplexeren
Metabolismus auf die Spur zu kommen ‒ und bedienen wir uns dreier
psychoanalytischer Erklärungsansätze für Adams tripolares
Spannungsfeld, in dessen Arena das Subjekt zu agieren hat. (Wir
stellen bei dieser Deutung das männliche
Subjekt Adam in den Mittelpunkt, obgleich
nicht auszuschließen ist, dass die Filmgeschichte durchaus auch aus
der Perspektive der drei Frauen, die Adam
gleichsam um- bzw. einschließen, zu erklären sein könnte.) Wir
bewegen uns also auf den Spuren eines Komplexes dreier klinischer
Fälle ‒ Schizophrenie-Psychose, Phobie ‒ und dem Versuch der
Konstituierung einer Identität angesichts der Herausforderung eines
Subjekts, das sich seine neue Rolle als „Vater“
suchen muss. Letzteres kann nur gelingen,
wenn die Bindung an die Mutter und das Fantasma ihrer Phallizität
gekappt sind. Aber allen diesen drei Stadien ist gemeinsam die Angst,
die das Subjekt heimsucht und ‒ je nach der Phase seiner
Entwicklung ‒ Gefährdungen aussetzt, die sich am Ende als circulus
vitiosus erweisen.
„Die
Angst ist das, was das Subjekt bewegt, es affiziert. Sie ist der
eigentliche Affekt“, postuliert der
Psychoanalytiker André Michels im Anschluss an den französischen
Psychoanalytiker Jacques Lacan. In jeder Liebesbegegnung
‒ präziser: dem Stadium der Verliebtheit
‒ kommt es zu einem schmerzhaften Wandel, zu einem Bruch
mit allem Vorherigen; Leidenschaft beherrscht eine Zeitlang das Leben
der Verliebten, solange das „Objekt“ der Liebe nicht „zu Fall“
und es nicht zu einer „Übersetzung“, einer Metaphorisierung der
Liebe gekommen ist. Das bedeutet aber vor allem, dass der Name
des betroffenen Subjekts selbst, insofern es
einer Transformation ausgesetzt ist, zum Ort eines meist
schmerzhaften Sinnverlusts wird. ‒ Tritt der Wandel des Objekts
nicht oder unvollständig ein, wie im vorliegenden Fall bei Adam bzw.
Anthony, dann kommt es vor allem beim Psychotiker zu einem realen
„Fall“ oder zu einem „Un-Fall“.
«Den Verlust erlebt er wie eine extreme Bedrohung, welche die
Integrität des Körpers in Frage stellt und ihn in eine kaum
begrenzbare (psychotische) Angst versetzt. […] Der Wahn, der diesen
Mangel wettzumachen versucht [ist] in letzter Instanz immer ein
Filiationswahn (délire de filiation),
d.h. der Versuch einer Rekonstruktion sowohl der Körperintegrität
als auch der Generationsabfolge.» (Michels) Und wird nicht gerade
das Ereignis der Schwangerschaft – sowohl aus weiblicher wie vor
allem auch aus männlicher Sicht – nur allzu oft als «Unfall»
betrachtet, der zu einem unabweisbaren Bruch in der Lebensgeschichte
führt (führen muss)? Die in diesem Zusammenhang auftauchenden
Ängste können als Signale bzw. Hinweise auf «die Vorherrschaft des
Fremden, des ganz Anderen im eigenen Haus» empfunden und gedeutet
werden, die im Stadium des Verliebtseins der Verdrängung
anheimfallen und sich danach mit umso größerer Macht wieder
bemerkbar machen. «Das führt zu häufigen Missverständnissen und
Fehlinterpretationen, die meist auf einer Verwechslung von Angst und
Macht hinauslaufen.» Hier findet sich das betroffene Subjekt einem
Wiederholungsprozess konfrontiert, dem es nicht ausweichen kann:
«Soweit sich das Subjekt auch hinauswagt, es wird sie [sc. die
Wiederholung] immer wieder auf seinem Wege vorfinden, als die
untrügliche Marke seiner Herkunft, eines Verlusts nämlich, der von
Anfang an zugegen und mitgegeben war, ihm sozusagen in die Wiege
gelegt worden ist.» (A. Michels: Angst, Zeit
und psychische Struktur, 1998; S.98f., 101
und 103) Angst wirkt demnach als «Grenzfunktion», die sowohl als
eine Schutz- wie auch als eine Trennungsfunktion erfahren werden
kann; immer aber spaltet sie das Subjekt auf in ein entweder nach
seinem Selbst und/oder nach dem Objekt (seines Begehrens) Suchenden
bzw. Irrenden…
In
seiner Not greift das Subjekt daher oft zu einem Maskenspiel,
mit dem das Kind schon früh konfrontiert war. Und je nachdem wie
dieses Maskenspiel szenisch gehandhabt wird, kann es entweder zum
erlösenden Lachen oder zum verstummenden Weinen, d.i. zum
sprichwörtlich gewordenen Zustand von ‚Furcht
und Schrecken‘ führen.
Als
Gegenpart der Angst tritt die «Kontrolle»
(A. Michels: «Macht»)
auf den Plan, und es stellt sich dann die Frage, ob die Angst
zugelassen und (vorübergehend) eingedämmt werden kann (im Fall der
Neurose) oder ob sie
vom Subjekt Besitz ergreift und es der Psychose
überantwortet.
Und
in der Tat ist «Kontrolle»
das erste Wort, das unser Adam vor versammeltem Auditorium im Hörsaal
beschwörend deklamiert. Er umschreibt damit die Bestrebungen so gut
wie aller geschichtsnotorischer autoritärer Staatssysteme, die sich
die Macht sichern wollen. Ihr Ziel ist in der ganzen Welt gleich, nur
die Mittel sind je nach Zeit und Ort verschieden. Das Römische
Reich, so doziert der Geschichtslehrer, bedient sich etwa der Mittel
von «Brot und Spielen»,
um das Volk über seine Unfreiheit hinwegtäuschen und ruhig halten
zu können… Adam enthält sich in seinem Vortrag zwar jeglicher
Bewertung des sozio-politischen Dispositivs dieser Kontrollsucht, und
weder die Zuhörer noch die Zuschauer – also wir! ‒ wissen, ob er
es als unvermeidlich darstellen oder kritisieren will.
Nichtsdestotrotz informiert uns aber die Psychoanalyse, dass uns
diese Unentschlossenheit einen Hinweis gibt auf den Zustand
des Subjekts der Äußerung selbst: Adam
spricht von sich, von
sich als einem Subjekt in seiner persönlichen Lebenskrise, das im
Konflikt zwischen Kontrolle und Öffnung ‒ und das will sagen:
Rekonstruktion ‒ der Identität hin- und hergerissen ist. «Brot
und Spiele» sind dabei bloße Mittel und
Rahmenbedingungen, die den Prozess der Identitätssuche forcieren.
6.
PHOBISCHES
«Ich
sah mich mich sehen.»
Paul
Valéry
Die
Filmeröffnung konfrontiert den Zuschauer mit dem schon erwähnten,
von gelbem Sand überdeckten Großstadtpanorama. Die während des
Filmgeschehens immer wieder eingestreuten film
stills der Großstadtperspektive mit ihren
beängstigend leeren Plätzen, die oft nur durch Oberleitungen
zusammengehalten scheinen, sowie der Blick auf leere Fensterhöhlen
(„blinde Augen“…)
der Hochhäuser geben von Anfang an die Atmosphäre von Anonymität
und Verlorenheit vor, in der sich der „moderne Adam“ nicht
heimisch fühlen kann. Die Filmtotale auf das bildeinnehmende
Großstadtpanorama bietet dem Auge keinen Punkt, an dem es zu
verweilen vermag: es fehlt zunächst ein Flucht-
oder ein Geometralpunkt, d.h. buchstäblich
ein „eye catcher“,
der die Möglichkeit schafft, das Bild zu strukturieren.
Leere,
Austauschbarkeit und Anonymität lösen Unbehagen aus, die sich im
wirklichen Leben zu einer Angsthysterie auswachsen kann: wir sind der
Sicht eines Agoraphobikers ausgesetzt, die zugleich mit ihrer
Rückseite – der Klaustrophobie ‒ verschmilzt, wenn uns, wie in
der Eingangssequenz des Films, die Kamera durch dunkle, enge Gänge
führt.
Wie
der Protagonist ist auch der Zuschauer dem BLICK einer
unüberschaubaren, «chaotischen» Stadt- und Seelenlandschaft
ausgeliefert, die sich zunächst der Entzifferung entzieht: Von
überall her ‒ d.h. von außen!
‒ werde ich angeblickt, und das erzeugt ein Gefühl von
Desorientierung, denn die Augen, die mich anblicken, sind überall!
Da diese ‚tausend‘ Augen dem Auge eines Insekts ‒ etwa einer
Gottesanbeterin… ‒ gleichkommt, wird mein Eigen-Bild
(narzisstisch) nicht wider-gespiegelt: das ‚Ich’ löst sich auf
in eine Vielzahl von Facetten, d.h. es geht „zu
Bruch“. Daher braucht es, um das
narzisstische Bild wieder herzustellen, eines «Blickpunkts»
(Lacan), der die unüberschaubare Weite des Angeblicktwerdens
fokussiert und damit die Angst in ihrer Verkleidung der Agoraphobie
bannt. Dieser Blickpunkt
manifestiert sich im phobischen Element, das je nach Subjekt und
dessen psychischer Erfahrung immer unterschiedlich ausfällt: bei
Freuds „kleinem Hans“ ist es ein Pferd, bei andern eine Schlange,
ein Krokodil … und bei Adam eine Spinne. Der Blickpunkt fungiert so
buchstäblich als Fluchtpunkt,
auf den sich das blickende Subjekt zurückziehen und sich vorläufig
wieder „sicher fühlen“ kann.
Das
Dispositiv des «Blicks» wird dadurch umgekehrt, d.h. letztlich
überlagert: die „Sicherheit“ des Blicks wird erkauft durch die
Reduktion des Blicks eines vermeintlich intakten Subjekts. Das
phobische Element schreibt sich ins normal-neurotische Dispositiv
ein: Das «Ich sehe»
will den Geometralpunkt okkupieren und das «es
blickt» unterdrücken bzw. invisibilisieren.
Doch Ziel wäre die Dezentrierung des Subjekts, «seine Ver-rückung
aus dem Bildzentrum … zugunsten der Befreiung des „es
zeigt“». (Annette Bitsch; 2013) Adam
gelingt das nicht. Die Verschränkung wird Movens:
Die
Psychoanalyse spricht der Angstphobie eine
eigene Struktur zu; ihre Grundlage ist jenes «Fort/Da»
der Bezugsperson des Kindes, der es nach der Geburt ausgesetzt war
und von der es sich Zeitlebens in Phasen des Verlassenwerdens wieder
abhängig erkennt. Das ist der Blick am Rande des Spiegelbilds, dem
wir jeden Tag ausgesetzt sind! ‒ Sigmund Freud analysierte das am
Fall des «kleinen Hans»,
der sich aus Angst, ein Pferd könne ihn beißen,
weigert, ohne Begleitung
auf die Straße zu gehen. Die Verbindung zwischen der Platzangst auf
der Straße und dem Symptom der Pferdephobie führt Freud auf den Weg
in die Familienverhältnisse
des kleinen Mannes und lässt ihn einen übermächtige Mutter und
einen schwachen Vater entdecken. Die Phobie taucht zudem inmitten der
Herausbildung der „phallischen Phase“ des Knaben auf und wird
verstärkt durch die Ankunft eines Schwesterchens, das für den
Kleinen die Frage nach der Geschlechtsdifferenz
und -rivalität aufwirft. Der kindliche
Wissenstrieb über die sexuelle Differenz löst im Knaben eine
obsessive Aktivität kindlicher Sexualphantasien aus: es geht ihm
u.a. um die Bezeichnungen sexueller Attribute („Wiwimacher“),
der Abstammung (Filiation)
und um seine Situierung innerhalb der Familienordnung (Differenz und
Konkurrenz zur Schwester, Zuwendung durch die Eltern etc.). Freud,
der den Knaben nicht selbst in Analyse hat, sondern nur den an
Psychoanalyse interessierten Vater berät, fungiert nichtsdestotrotz
als externer großer Allwissender, als «großer Anderer» (Lacan) ‒
vgl. Hans: „Spricht der Professor mit dem
lieben Gott?“ (S. Freud 1909; S.41) ‒,
der die kindliche Allmacht in ihre Schranken zu weisen und dadurch
die schwache Position des Vaters als (phantasierter) Rivale bei der
Mutter (Hans: „… du tust eifern…“;
S.74) zu kompensieren vermag. Der «Professor» übernimmt die
eigentlich väterliche Funktion der «Kastration»: die Trennung des
Kindes von der übermächtigen Mutter.
Es
bedarf allerdings durchaus einiger Anstrengungen, um die nach „Pulp
Fiction“-Manier eines Quentin Tarantino
montierten Filmszenen in «ENEMY»
im Kontext des phobogenen Motivs zusammenzuklauben. Spuren und Fäden,
ja sogar Beine und Kopf der Spinne können dabei durchaus als Führer
aus dem digitalen Irrgarten helfen. Einen entscheidenden Hinweis
liefert uns dann das Auftreten der Spinne über der Stadt im
Zusammenhang mit Adams ‒ ersten und einzigen face-to-face-Gespräch
mit der Mutter.
Begründungen,
weshalb Villeneuve ausgerechnet zur phobogenen Bildmetapher der
Spinne (Arachne, ‚spider‘, ‚l‘araignée‘)
greift, liefern uns ‒ soweit ich sehe ‒
weder Filmplot noch Filmgeschehen (also die Lebensgeschichte des
kleinen Adam), und auch nicht die Aussagen des Regisseurs. Die
Metapher ließe sich allenfalls durch zusätzliche Assoziationen
plausibel machen, die
auf a) die Dominanz der Mutter in Adams Leben, in dem er gleichsam an
den Fäden der Mutterspinne kleben geblieben ist, und b) die
Parallelen mit den elektronisch-digitalen Kommunikationsnetzen der
modernen Gesellschaft verweist. Die Strom- und Straßenbahnleitungen
werden oft als filmstills
eingeblendet, die Kameraperspektive wirft meist einen Blick von oben
auf jene Szenen, die im Freien spielen (Helikoptering
der Mutter?); zudem werden Telefongespräche ‒ Vorherrschaft der
Stimme! ‒ für die Rekonstruktion der Identität zentral.
‒ Die
bildende Künstlerin Louise Bourgeois freilich hatte auch schon
Gefallen an der Spinne als Muttermetapher gefunden; für sie diente
die Spinne als Metapher der schützenden Funktion der Mutter:
«Der Freund
(die Spinne – warum die Spinne?)
weil mein
bester Freund meine Mutter war und sie
war
überlegt. Intelligent, geduldig, friedfertig, vernünftig,
zurückhaltend,
edel, unerlässlich, rein und nützlich wie eine
Spinne. Sie
wusste sich auch zu verteidigen, und auch mich zu verteidigen, indem
sie sich
weigerte, auf „dümmliche“ Nachstellungen und indiskrete
persönliche Fragen zu antworten.
Ich werde
nie damit aufhören, sie darzustellen.
Ich möchte:
essen, schlafen, reden, verletzen, zerstören…
‒ Warum?
‒ Meine
Gründe gehören nur mir allein.
So geht man
mit FURCHT um.»
(Louise
Bourgeois: Ode an meine Mutter; S.335. ‒ Übersetzung HPJ) ‒
Und
genau wie bei Louise Bourgeois müssen auch wir bei Adam davon
ausgehen, dass die «Gründe … nur mir
allein» gehören, und das phobische Element
der Spinne deswegen zudem nicht als Schutz, sondern als Bedrohung
erscheint. ‒ Aufgrund dieses fehlenden Hinweises müssen wir uns
von daher ‒ vorläufig ‒ durch Spekulationen weiterhelfen und
herausfinden, ob uns das zum Gesamtverständnis des Films
weiterhilft.
Im
Darkroom: Anthonys Ring
Das
Faszinosum „Spinne“ taucht freilich schon früh im Film auf: In
einer an Stanley Kubricks «Eyes Wide Shut»
gemahnenden Szene wird dort durch halbbekleidete Damen auf einem
silbernen Tablett unter den faszinierten Blicken meist älterer
distinguierter, fast mafiöser Herren eine krabbelnde fette Spinne
per weiblicher Highheels
vom Leben zum Tod befördert. Das phobische Element erhält seine
Hinrichtung im Alt-Herren-Dark Room
durch die dort verpflichteten verruchten Halbwelt-Damen, die
gleichsam im Unterboden des bourgeoisen Gesellschaftstheaters als
willkommene, perverse Abwechslung zum drögen Familienleben gehalten
werden. Unter den sich wonnig-verstörender Faszination hingebenden
und dabei die Krawatte zurechtrückenden wohlsituierten Senioren
befinden sich auch Anthony (d.i. der „Unschätzbare“)nebst
seines überwältigten Concierges, der später um einen weiteren
Besuch in diesem Etablissement betteln wird. Es handelt sich offenbar
um ein beliebtes Gesellschaftsspiel der reichen Haute-volée
Torontos. Der Schlüssel zum Dark-Room
wird dem Schauspieler an die (Doppel-)Adresse seiner Agentur
geliefert ‒ und lässt den am Ende quasi zu ‚sich
selbst‘ findenden Adam nachdenklich und
voller Hintergedanken zurück.
Tod
auf silbernem Teller
Der
Reiz und die Gefährlichkeit des bürgerlichen Doppelspiels gewinnt
augenscheinlich und bekanntermaßen ja gerade durchs Verbotene und
Geheimnisvolle zusätzlichen Reiz; der Regisseur hat es zudem noch
gewürzt durch eine Prise ehebrüchlerischer Verruchtheit, indem er
das Motiv des beringten und unberingten Fingers mit einbringt. Das
helle Mal am unberingten Finger wird dann später auf die Camouflage
des Ehebruchs verweisen; es wird zum Motiv der Entdeckung der
Geliebten, dass sie sich (ab nun?) einem verheirateten Liebhaber
hinzugeben habe; Mary aber wird dieses Spiel nicht mitspielen; sie
erkennt im Geliebten den Ehebrecher und Betrüger ‒ den «Feind».
Die
Aufrechterhaltung des Zweitlebens hätte sich nur erfüllen lassen,
wenn sich die Geliebte auf die Gepflogenheiten und Bequemlichkeiten
des auf eine Hintertür fürs bürgerliche Eheleben bedachten Adam
eingelassen hätte. Die weiblichen Stilettos ‒ schon zuvor von
Anthony sehnsüchtig bei Marys Busfahrt bewundert ‒ sollten per
Todesstoß auf die ‚Spinne‘
von der beißenden Schuldrepräsentanz und der mütterlichen
Umklammerung zumindest von Zeit zu Zeit befreien… Doch Mary will
sich auf derlei bourgeoise Versteckspielereien nicht einlassen. Ein
verheirateter Adam wird ihr zum Fremden. ‒ Das „Mary“
des Namens mag hier auch in seiner Mehrdeutigkeit auf den verborgenen
weiblichen Imperativ „marry [me]!“
hindeuten. Und zum «Feind»
(enemy) wird hier
nicht nur der sexgierige und von seinen Macho-Allüren nicht ablassen
wollende Anthony für Adam, sondern auch der ‚neue‘
Adam für Mary.
7.
Schizo
Das
‚Spiel‘ entpuppt
sich demnach als mehr oder weniger simples
Doppelwohnsitz-quid-pro-quo des
Protagonisten, der sich neben seinem Brotberuf als Literaturlehrer
ein Zubrot als Gelegenheitsschauspieler verdient. Da sich bürgerliche
Realität und triumphales männliches Allmachtsgehabe des
Allerwelts-Adam nicht ohne weiteres miteinander vereinbaren lassen
(selbst die künstlerisch angehauchte Mutter spricht von einem
«drittklassigen Schauspieler»),
versucht sich Klein-A
einen Notausgang als zukünftiger Familienvater offen zu halten und
behält die wohl aus studentischen Zeiten noch überkommene
Zweiwohnung weiter bei ‒ als Liebesnest einer in einer
Parallel-Amour geschauspielerten folie à
deux. ‒ Der Schlaf der braven
Bürgerlichkeitsvernunft gebiert auch und gerade in der modernen
anonymen Großstadt immer noch Monster.
Arachne,
nach Gustave Dorés Illustration von Dantes «Hölle», 1861
Doch
Klein-A hat die
Rechnung ohne die Mutter gemacht! Sie ist immer anwesend, nicht nur
dank der unsichtbaren Drähte und Fäden des Mobil-Netz(!)-Telefons.
Manifest taucht sie zwar nur einmal auf, doch ihre Fäden sind immer
sichtbar, sodass wir darin den Grund für die Spaltung des Subjekts
Adam lesen können.
Mutter
Unter
Schizophrenie versteht
das französische Wörterbuch der Psychiatrie eine «schwere
Psychose vor allem bei jungen Erwachsenen, die für gewöhnlich
chronisch auftritt und sich klinisch durch Kennzeichen von geistiger
Auflösung, affektiver Beeinträchtigung und unzusammenhängenden
wahnhaften Aktivitäten bemerkbar macht und im Allgemeinen begleitet
wird von einem Abbruch jeglichen Kontakts zur Außenwelt und einem
autistischen Rückzug des Betroffenen».
(Dictionnaire de Psychiatrie,
Larousse 1993) Eugen Bleuler war es, der als Erster ab 1908 und
später in seinem «Handbuch der Psychiatrie»
(1911) den Begriff in die klinische Diskussion eingeführt hat und
dadurch auf eine Spaltung (gr.
schizein) des Geistes
(gr. phrēn) hinweisen
wollte. In seinen metapsychologischen Schriften und vor allem in
seiner Abhandlung «Über einen
autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia» (Der Fall
Schreber) von 1911 nimmt Sigmund Freud
zeitgleich den Vorschlag Bleulers auf, löst ihn aus dem engen
klinisch-medizinischen Zusammenhang und sieht darin Mechanismen des
normalen psychischen Lebens, die durchaus eine eigenständige, von
der Psychose gesonderte Struktur bilden. Er analysiert darin eine
Fixierung auf eine passive Verdrängung, bei der ein Teil der
Libidoentwicklung sich nicht ‒ wie zu erwarten ‒ normal
entfaltet, sondern auf einem infantilen Status verharrt
(«Fixierung»). Es
kommt zu einer Abspaltung der Libido vom kindlichen Liebesobjekt
(Mutter, Vater …) und zu einer Regression der entbundenen und somit
frei flottierenden Libido, die im psychischen Gebäude zu einem
Einbruch des Imaginären und einer Wiederkehr
des Verdrängten im Realen führt; es bilden
sich Halluzinationen, die sich entweder in Überbesetzungen von
Objekt- oder (wie Freud in seiner Arbeit übers Unbewusste
1915 feststellt) von Wortvorstellungen
niederschlagen. Das Wort verliert dabei seinen metaphorischen Sinn,
verwandelt sich in einen realen Wahn. An dieser Grenze zur
Sprachwissenschaft nimmt Jacques Lacan mit seiner Hypothese, dass das
Unbewusste strukturiert ist wie eine Sprache,
den Faden wieder auf, um darzustellen, dass der von Freud
konstatierte Einbruch des Imaginären ins Reale durch den Mangel der
väterlichen Metapher,
dem sog. Namen-des-Vaters,
der der Begrenzung der metaphorischen Funktion der Sprache dient,
verursacht wird. Der Name-des-Vaters
ist eine Art „Stepp-Punkt“,
welcher der frei flottierenden Signifikantenkette Einhalt gebietet
und es erlaubt, etwa ein Symbol aus der realen
in die symbolische Ordnung zu transponieren
(d.h. es zu „entrealisieren“).
Die Verwerfung des Namens-des-Vaters,
die totale Abweisung des symbolischen (d.h. sprachlichen) Universums
dieses grundlegenden Signifikanten durch das Subjekt lässt die
«Wiederkehr» nur im «Realen» der halluzinatorischen Welt des
Schizophrenen zu.
In
der Psychose bleibt
«jedes Symbol real»
(Lacan), es gibt keine Trennung der von Lacan im sog. Borromäischen
Knoten verbundenen drei «Register» des «Symbolischen»
(Sprache), «Imaginären»
(Einbildung) und «Realen».
Und im Falle von Denis Villeneuves Welt des «ENEMY»,
in dem der NAME des Vaters nicht auftaucht und als „verworfen“
zu gelten hat, taucht die Kastrationsdrohung ‒ als Wunsch nach
Trennung von der verschlingenden Mutter ‒ infolgedessen als
Halluzination im Realen
wieder auf.
8.
VERWERFUNG
Die
Verwerfung schließt
den Signifikanten des Namens-des-Vaters aus der Realität aus und
führt in Gestalt einer Wiederkehr des Verdrängten zur Manifestation
eines halluzinatorischen Bildes in der Welt: Jacques Lacan scheidet
damit die Psychose von
der Neurose und der Perversion. Bei aller Verfangenheit in dieser
logischen Struktur ist es daher nicht weiter verwunderlich, dass der
‚reale‘ Vater –
und damit der „Name-des-Vaters“
‒ im Film nie auftaucht.
Dafür
aber lernen wir (in einem einzigen Auftritt souverän gespielt von
Isabella Rossellini) eine Mutter kennen, die sich neben ihrer
künstlerischen Mal-Leidenschaft als zielbewusste und bodenständige
Maman erweist, die
offenbar erst nach dem Ableben oder
Verschwinden ihres Mannes zu vollem
weiblich-emanzipatorischer self-empowerment
gelangt ist. Dem verstörten Adam auf seiner Passage zur Vaterschaft
bringt sie eindringlich die Pflichten eines zukünftigen Vaters und
treusorgenden Ehemanns in Erinnerung: „Das
Letzte, was du brauchst, ist, dich mit einem fremden Mann im
Hotelzimmer zu treffen! … Du hast schließlich genug damit zu tun,
dich um eine Frau kümmern! … Ich denke, du solltest dich endlich
von der Phantasie verabschieden, ein drittklassiger Schauspieler zu
sein!“ – Nicht von Ungefähr lässt sich
hier die Stimme der in
der Vergangenheit den Extravaganzen des Ehemanns (Darkrooms!)
ausgelieferten Gattin hören: Die Mutter will jetzt dafür sorgen,
dass der Sohnemann nicht in dieselben Fußtapfen des Patriarchen
tritt.
Die
Dequalifizierung als «drittklassigen
Schauspieler» könnte also auf den
abwesenden Ehegatten gemünzt sein, dessen keinesfalls un-erwartete
Wiederkehr sich im Sohn gerade abzuzeichnen scheint. ‒ Auch Adams
Apfel fällt nicht weit vom Baum… ‒ Vorerst ist diese Gefahr
allerdings noch nicht gebannt. Die durch die Filmmontage
zerschnittene biografische Chronologie von Klein-A
(Adam) als Groß-A
(Anthony) scheint schon vorher in die Katastrophe geführt zu haben,
die dem Phantasieleben ein jähes Ende bereitet hatte. Denis
Villeneuve will uns freilich darüber bewusst in Unkenntnis lassen
und die Frage nach der Narbe
an der Brust, die sich ja schließlich und letztendlich als das
entscheidende und manifeste – von der Mutter ausdrücklich
bestätigte ‒ Merkmal der Identität beider A‘s
erweist, geheimnisvoll verbrämen. Die Pänultima
‒ d.h. die vorletzte Szene, die im gängigen Erzählmuster immer
ein sog. retardierendes Element vorführt, bevor der (tragische) Held
ins Unglück stürzt oder der entdeckte (komödiantische) Hahnrei die
Waffen streckt (siehe Kleists Zerbrochener
Krug), schildert uns den Unfall
des schließlich auf den letzten Platz hinter den drei Frauen
(Mutter, Gattin, Geliebte) verwiesenen Muttersöhnchens: die
fantasmatische Figur einer Evasion verfängt sich endgültig im
letalen Netz der Mutter.
9.
FEINDLICHES
Der
imaginäre Doppelgänger tritt innerhalb der schizoiden Spaltung des
Subjekts auf als ein persönlicher FEIND.
Otto Rank hat hier schon auf die psychische Funktion der Begegnung
des Subjekts mit seinem Doppelgänger hingewiesen: «Der Doppelgänger
erweist sich in dieser subjektiven Bedeutung als ein funktionaler
Ausdruck der psychologischen Tatsache, dass das derart aufgestellte
Individuum von einer bestimmten Phase seiner narzisstisch geliebten
Ichentwicklung auch loskommen kann, die ihm immer und überall wieder
entgegentritt und seine Aktionen in einer bestimmte Richtung hemmt.»
(Rank, 1925; S:109f.) Das Subjekt muss einen Zwiespalt ausagieren,
der es zu zerreißen droht.
Daher
mag die Vermutung erlaubt sein, ob die dem Filmpublikum vorgesetzte
Münchhauseniade in Form eines Autounfalls vielleicht nicht auch
einen realen Hintergrund hat, der sich in der Narbe an der Brust des
Protagonisten (Adam’s rip!)
für alle Zukunft dokumentiert. Die Narbe stünde von daher im Ansatz
auch als Marke der symbolischen «Kastration»,
die anzuerkennen das Subjekt gehalten wäre. Trotz des zertrümmerten
Wagens mag zumindest Adam/Anthony dem Tod entronnen sein, während
die Partnerin im Netz der Mutterspinne verendet sein könnte. Einen
Teil des düsteren, schuldbehafteten Schattens einer Melancholie mag
davon vorher schon aufs Ich gefallen sein; erklärlich wäre dadurch
immerhin die offen zutage tretende Antriebslosigkeit des
Literaturlehrers (und zukünftigen Vaters). Im Verein mit einem
paranoischen Schuldbewusstsein ließen sich dann auch die anderen
psychischen Verhaltensallüren Adams erklären. Wie bekannt zeichnet
‒ nach Sigmund Freud ‒ der Mechanismus der Verdrängung sowohl
das Feld der Psychose (wie auch der Neurose) dadurch aus, dass sich
die Libido von der äußerlichen Welt zurückzieht und einer
Regression aufs Ich (und nicht aufs fantasmatische Ersatzobjekt wie
in der Neurose) Raum gibt. Und im Unterschied zur Paranoia bilden
sich bei der Schizophrenie Mechanismen der Wiederkehr des Verdrängten
als Symptome aus, die sich in der realen Welt manifestieren. Die
Frage nach der Genese dieser Symptome wird im Film freilich offen
gelassen; von daher die Hilflosigkeit der Filmkritiker/innen bei
ihrer Suche nach einer kohärente Deutung des Films.
Spiegelfunktion:
Who is who?
Adams
Inversion, d.h. sein mehr oder weniger bewusstes (gleichsam
Schreber-haftes)
Durchschreiten der Psychose scheint aber gleichwohl erkennbar zu
werden; nicht nur sehen wir ihn in Helens Wohnung beim Blättern in
einer Zeitschrift mit dem Titel «Cycle»/Zyklus/Kreis,
sondern vor allem beim bedeutungsschwangeren Griff nach dem Foto auf
dem Wandboard; das Foto gehörte vorher zu Adams Bestand und taucht
nun plötzlich – aber nach den vorgestellten Deutungsversuchen
keineswegs unerwartet! ‒ im Appartement von Anthony und Helen
wieder auf: eingerahmt von der Figurine einer metallenen Spinne und
einem Buch mit dem Titel «Art of
Peace»/«Kunst des
Friedens» führt es in den Händen eines
anscheinend geläuterten und (wieder)vereinigten Adam-Anthony in den
bürgerlichen Ehehafen (zurück). ‒ So viel zur «Moral
von der Geschicht‘». (Und ist das Einhorn
im Hintergrund etwa ein Augenzwinkern, die «Geschicht‘»
doch nicht allzu ernst zu nehmen…?)
10.
ZIRKULÄRES
Gleichwohl
aber bleibt das Subjekt in seiner Ichentwicklung eng verbunden mit
den Fesseln seiner Vergangenheit, und es ist nötig, den spezifischen
Ausweg nachzuzeichnen, den Adam dabei wählt. Auch hier gibt uns das
psychoanalytische Modell wieder einen Wink.
Die
Phobie erhält einen
Status, der weder von Freud noch von Lacan eindeutig definiert ist.
Es stellt sich die Frage, ob sie nicht der Effekt
der Urverdrängung
ist und deshalb „neurotisiert“, d.h. als Neurose in der
analytischen Kur behandelt werden kann. Ist die Phobie Effekt einer
Verdrängung, dann verweist sie auf eine nicht-erfolgte «Kastration»
und taucht als Forderung nach symbolischer Kastration «im Realen»
wieder auf: beim «kleinen Hans»
als Pferd und bei Adam als Spinne. Beide Male ist ihnen eine Drohung
gemeinsam: der «Biss»,
der die Angst vor dem Verlust des Penis übersetzt. ‒ In seiner
„modernen“ Version bei Adam ‒ d.h. im Zeitalter der Telematik ‒
wäre demnach der «Biss»
sogar durchaus wörtlich zu nehmen: als (elektronisches)
«bite»/«byte»!
‒
Was
aber bei Adam zur Debatte steht, ist ‒ ähnlich wie beim «kleinen
Hans» ‒ nicht so sehr die «Drohung» der
«Kastration», sondern ihr Einklagen!
Das enge Band zwischen Mutter und Sohn ist nicht zerschnitten; und
dieser Mangel taucht bezeichnenderweise genau an jenem Punkt der
Lebensphase von Adam auf, in der er den Übertritt zum Vater
vollziehen muss! ‒ Und hier könnte der «Fall
Adam» durchaus als Parallele zum «Fall
Schreber» gesehen werden, bei dem die
Psychose genau zum Zeitpunkt seiner Ernennung zum Gerichtspräsidenten
‒ einer andern Art von Vaterrolle ‒ ausbricht. ‒ Das Subjekt
ist der Frage «Was ist ein Vater?»
konfrontiert. Die Antwort verlangt nach einer völligen Neu-
oder Re-Strukturierung des Subjekts. Das
Auftauchen immer neuer Ansichten der Spinne im Film kommentiert die
Dringlichkeit dieser Aufgabe.
Entgegen
aller Widrigkeiten scheint unser Adam den Weg zur Neurotisierung
seiner Phobie durchschreiten zu können; schon zuvor deutet die
Inversion des Bilds der Spinnenfrau einen Ausweg an: das phobogene
Element wird von den Füßen auf den Kopf gestellt und damit als
imaginäres Bild
fixiert.
Inversion:
Kopf der Spinnenfrau
Anders
aber als Freud deutet Lacan das phobische Element allerdings nicht
als Vertretung des ‒ schwachen ‒ Vaters. Das halluzinatorische
Auftreten der Spinne im Zusammenhang mit der Mutter weist im Film
einen anderen Weg: zwar geht es auch hier um die «symbolische
Kastration», doch sie wendet sich nicht an den Vater. Das
Übermächtigwerden des phobischen Elements ist eher das Zeichen an
die Mutter, den Sohn loszulassen! Da allerdings weder ein Vater oder
ein anderer «großer Anderer» (wie Freud beim «kleinen
Hans») zur Verfügung steht, besteht die
Gefahr, dass die Psychose am phobogenen Element, also an die Mutter,
fixiert bleibt. M.a.W.: der Teufelskreis ist noch nicht durchbrochen
und der versprochene «Friede»/«Peace»
immer noch nicht in Sicht…
***
Im
Anschluss an Lacans Ausführungen zur Struktur des Blicks (Seminar
XI: «Die vier grundlegenden Begriffe der
Psychoanalyse») entwickelt Charles Melman
die Theorie der Phobie als eine «Krankheit
des Imaginären»: die Agoraphobie
organisiert Phobogenes, weil leere Plätze dem Blick und der Sicht
keinen Halt bieten; in Gestalt eines «automaton»
taucht daher oft ein Tier auf, das als «Blickfang» oder Fluchtpunkt
dient. Mit diesem «Fleck» im Raum identifiziert der Schauende dann
den Platz seines eigenen Blicks. Während das neurotische Subjekt
«einen Tribut an den [großen] Anderen [sc.
Gott, HPJ] auf der Ebene des Imaginären
durch die Erfindung eines phobogenen Tieres» leistet, gelingt dem
Phobiker das nicht; der Neurotiker stopft das Loch
im Symbolischen durch das Tier; doch da für
den Phobiker das Loch im imaginären Register
lokalisiert ist, bleibt für ihn der geforderte Tribut unendlich; mit
andern Worten: die «Kastration» bleibt en
suspense, aufgeschoben: der Blick kann die
Differenz der Geschlechter nicht realisieren! ‒ Könnte das der
Grund dafür sein, dass im Filmtitel das «N»
oblik erscheint: ein
Verweis auf die mathematische Bedeutung des «n»
als unbestimmte Zahl?...
Adam
mit dem Rücken zur Wand(tafel)
11
AUSWEG
Was
eine Tochter (Louise Bourgeois)
als Schutz und ein Präsident (Freuds Schreber)
als göttlich empfinden konnten, wandelt sich beim Knaben (Freuds
«kleinem Hans») zur
verschlingenden, nachstellenden und kastrierenden Erinnye in Gestalt
eines beißenden Pferds, das nach dem Geschlecht des Knaben schnappt.
Im Falle des «kleinen Hans»
ist der Vater zu schwach, um als Identifikationsfigur gegenüber der
Mutter zu dienen; im Falle Adams bleibt er hingegen völlig
unsichtbar, inexistent («verworfen»).
Die Halluzination nährt sich demnach beständig durch die
dominierende Mutter-Gestalt, die den Knaben in ihrem Netz gefangen
hält. Im digitalen Zeitalter hängt der Knabe zusätzlich an der
metaphorischen Nabelschnur des elektronischen Netzes fest. Und daher
ist es die Resignation vor der Mutter bzw. die Unterwerfung unter die
Mutter, die am Ende von Denis Villeneuves Film verstört. Selbst die
Filmkritiker ahnten, dass das Ende des Films keine «Lösung» im
herkömmlichen Sinne anzubieten vermag. Der männliche Doppelgänger
als «Feind» ist zwar besiegt, doch mit ihm hat sich auch die
Hoffnung auf einen soliden Schutzdamm zwischen symbolischer,
imaginärer und realer Ordnung verflüchtigt. Die Erfahrung der
«symbolischen Kastration» durch den «Namen-des-Vaters»
(ein «nom»/‚Name‘,
der zugleich ein «non»/‚Nein‘
ist!), die zugleich eine Schranke für die frei flottierende Libido
errichtet und dem Subjekt einen Halt im Symbolischen verschaffen
könnte, steht noch aus. Auch die Subjektivierung ‒ die Spaltung
des Subjekts ($) ‒
bleibt en suspense. Ob
für immer, ist unklar; vorerst übernimmt die verschlingende
Mutterfunktion nun die schwangere Ehefrau. Und die Mutter ist’s
zufrieden …?
Johann
Heinrich Füssli (1741-1825): Der Nachmahr (1790)
Vielleicht
bliebe Adam aber immer noch die Möglichkeit der Konsultierung eines
kompetenten Psychoanalytikers, der ‒ wie der Freud des «kleinen
Hans» ‒ «den
Untergang des Ödipuskomplexes» initiiert?
Die Anerkennung des «Namens-des-Vaters»
würde dann zum Ausgangspunkt eines möglichen neuen Wegs, der
einzuschlagen wäre und der von Jacques Lacan mit folgenden Worten
umschrieben wird:
«Die
Hypothese des Unbewussten ‒ und Freud hebt das besonders hervor ‒
kann sich nur daran festmachen lassen, dass man den Namen-des-Vaters
unterstellt. Und den Namen-des-Vaters unterstellen, heißt
sicherlich, Gott unterstellen. Der Erfolg der Psychoanalyse erweist
sich dadurch, dass man [dann] auf den Namen-des-Vaters ebenso gut
verzichten kann. Man kann ebenso gut auf ihn verzichten, wenn [und
dass] man sich seiner bedient.»
(Jacques
Lacan: Le
Séminaire,
Livre XXIII,
Le
sinthome;
S.136.
‒ Eigene
Übersetzung, HPJ)
Louise
Bourgeois: Maman
Wie
Lacan für James Joyce
nachgewiesen hat (Seminar XXIII, Le sinthome),
hatte auch Louise Bourgeois
«ebenso gut auf den Namen-des-Vaters
verzichten» können, indem sie «sich seiner bedient[e]» und sich
selbst einen eigenen (Vater-)Namen als
Künstler schuf. Beide konnten demnach den
«Erfolg der Psychoanalyse»
genießen.
Allein
durch die Zeugung eines Kindes und die Übernahme der Elternschaft
aber ‒ so darf man Lacans Aussage getrost verstehen ‒ lässt sich
schwerlich ein eigener Name-des-Vaters
schaffen…
Höchstens
‒‒ die Frage «Was ist ein Vater?»
an die nächste Generation weiterreichen?
Louise
Bourgeois, 1911-2010
Der
Film
Denis
Villeneuve: ENEMY.
Kanada/Spanien 2013
Produzent
M.A. Faura, Niv Fichman, Verleih Capelight Pictures. Drehbuch
Javier Gullón nach dem Roman von José Saramago «Der Doppelgänger».
Musik Danny Bensi, Saunder Jumaans. Kamera Nicolas Bolduc. Schnitt
Matthew Hannam. Bühne Patrice Vermette, Sean Breaugh, Jim Lambie,
Kostüme Renée April. Darsteller Jake Gyllenhaal (Adam, Anthony
Saint Clair), Melanie Laurent (Mary), Sarah Gadon (Helen), Isabelle
Rossellini (die Mutter) u.a.
90
Min.
12
Literatur
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