پنجشنبه
Hans-Peter Jäck

Adam vor dem Gesetz
Zur Entzifferung eines imaginären Chaos
Denis Villeneuve: «ENEMY» (2013) ‒


Inhalt
1. Filmplot 2
2. Filmkritik 3
3. Verwirrspiel 6
4. Klinisches 6
5. Angst 8
6. Phobisches 9
7. Schizo 14
8. Verwerfung 16
9. Feindliches 17
10. Zirkuläres 19
11. Ausweg 20
12. Literatur 23
«Quand je suis née,
mon père n’était déjà plus là.»
Sibylle Lacan, 1994

«We build houses and they shape us.»
Winston Churchill

«Wer zwei Frauen hat, verliert die Seele.
Wer zwei Wohnungen hat, verliert den Verstand.»
Éric Rohmer: Les nuits de la pleine lune, 1984


Der Film «ENEMY» von Denis Villeneuve verunsichert schon bei der Schreibweise des Titels: Warum steht da ein schräggedrucktes N? Wir müssen mit Sigmund Freud sogleich konstatieren: «Etwas ist also da nicht in Ordnung.» (Sigmund Freud: Hemmung, Symptom und Angst, 1925/26) Zusätzlich gibt uns der Filmvorspann ein geheimnisvolles Prinzip mit auf den Weg, von dem wir nicht wissen, ob es überhaupt Licht ins Dunkel bringen kann: «Chaos is order yet undeciphered.»/«Chaos ist die noch unentschlüsselte Ordnung.» Immerhin aber könnte es sein, das uns die Psychoanalyse dabei helfen kann, das «Chaos» ein wenig zu ordnen. ‒ Ob uns das gelingt, wird sich dann am Ende zeigen.


1. Filmplot


Inmitten einer von einem Sandsturm überwölbten und durch vielerlei matte paintings überlagerten modernen Stadtansicht von Toronto folgen wir der verzweigten und sich überkreuzenden Geschichte zweier Männer ‒ oder vielleicht auch nur eines einzelnen Mannes, der das eine Mal als melancholischer Literaturlehrer nebst Freundin, das andere Mal als drittklassiger Schauspieler und Macho nebst schwangerer Ehefrau auftritt. Der Lehrer Adam Bell (Jake Gyllenhaal) – ein „Adam“ also ‒ scheint weder mit seinem Beruf noch mit seinem Leben als nicht sehr passionierter Lover seiner Freundin Mary (Melanie Laurent) in einer asketischen Studenten-Höhle zurechtzukommen. Da trifft es sich gut, dass ihn ein Tipp eines Kollegen auf die Spur (s)eines Doppelgängers namens Daniel Claire alias Anthony Saint Clair bringt, der sich in billigen B-pictures als Hotelpage oder als Macho Brot und Bett verdient. Klarheit („clair“) soll ihm dieser Doppelgänger nun in sein eigenes Leben bringen… «Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg», nennt sich der Filmteaser und gibt damit auch das Motiv der eigenen Sinnsuche vor: die Welt als Wille und Vorstellung! ‒ Von den äußerlichen physischen Merkmalen beider Männer ist es zunächst vor allem die STIMME, die auf eine Identität beider Figuren verweist. Bestätigt wird das anlässlich eines Telefonats mit der Frau von Anthony, Helen (Sarah Gadon): sie ist sich sicher, dass ihr, den Fremden spielender Ehemann durch diesen merkwürdigen Anruf sie zum Narren halten will. Die Wohnung liegt in einem dieser von modernen gesichtslosen Plattenbauten überladenen städtischen Schlafviertel, die allein durch ihre Austauschbarkeit leicht zu verwechseln sind: Wie oft lesen wir von Menschen, die aus Versehen oder Trunkenheit in der falschen Wohnung gelandet sind! Hochhäuser, Appartements sind genau wie die darin hausenden Menschen leicht ver- und auswechselbar. Schon der Gang durch die Unterführung von Adams Hochschule zeigt serielle Graffitis ewig gleicher, anonymer Stadtbewohner, die für diese Stadtlandschaften maßgeschneidert vorgefertigt werden und entsprechend identitätslos dahinkümmern. Freilich führt die verstörende Penetranz, mit der sich Adam nun ins Familienleben von Anthony einschleicht, schließlich doch dazu, dass Anthony zu einem gemeinsamen Treffen in einem anonymen heruntergekommenen Hotel einlädt, bei dem sich nach der stimmlichen nun auch die perfekte physische Identität beider herausstellt: bis hin zur Narbe an der Brust gleichen sich beide! Differenzen bestehen nur in austauschbaren Details: Kleidung (hautenge Lederjacke‒weitgeschnittenes Sakko), Gefährt (Motorrad‒Mittelklassewagen), Links- und Rechtshändertum und ‒ nicht zu vergessen: der beringte und unberingte Finger als Zeichen eines Eheversprechens. (Besonders durch dieses Merkmal lassen sich ‒ bei genauerer Sicht ‒ die Filmwege beider Protagonisten durch alle Verwicklungen und scheinbaren Überlagerungen hindurch unterscheiden.) Ja selbst die differenten Gemütsverfassungen beider erinnern an austauschbare Kleidungsstücke ‒ passiver Melancholiker vs. hyperaktiver Macho ‒, die zusammen mit den outfits an- und abgelegt werden können. Die zugriffsfreudige Aggressivität bei Anthony wie auch jener lästig-düster-verhaltene Selbstzweifel Adams werden zudem eher von den recht unterschiedlichen Partnerinnen induziert, als dass man sie einem persönlichen Charakterzug dieser Männerklischees zurechnen könnte. Beiden Männern gemeinsam ist wiederum das Gefühl der Bedrohung, dass durch ihre Begegnung das jeweilige Leben immer mehr aus dem Gleichgewicht zu geraten drohen könnte ... Adams Mutter, zu der immer noch ein intensives Verhältnis besteht (um die enge Verbindung zwischen Adam und seiner Mutter in der deutschen Version etwas zu verbrämen, antwortet die Mutter noch am Telefon mit «Darling» in der deutschen Fassung, während im Original der Name «Adam» erscheint), bestätigt ihm, dass es vollkommen ausgeschlossen ist, dass etwa ein Bruder existieren würde. ‒ Die Beziehung von Adam/Anthony zu den beiden Frauen (der Geliebten und der Ehefrau) ist beherrscht von eher schwermütiger hektisch-passiver Ambivalenz, in die sie die unterschwelligen Untreueverdächtigungen der jeweiligen Partnerinnen verfallen lassen; besonders die mögliche Entdeckung, der Möchtegern-Macho suche wegen der Schwangerschaft seiner Frau seine libidinöse Befriedigung anderweitig, nimmt das männliche Selbstbewusstsein doch sehr gefangen... ‒ Als dann der Schauspiel-Macho in einem Anfall von Rache am ‒ vermeintlichen ‒ Nebenbuhler (vgl. Anthonys Spielart des „pater semper incertus“: «Did you fuck with my wife?!») dem hilflosen Adam eine Landpartie mit dessen Freundin Mary aufnötigt und sich zugleich seiner Kleider und seines Wagens bemächtigt, wird der gehemmte Adam aus seiner melancholischen Selbstbespiegelung gerissen und zur Selbsthilfe gezwungen: seinerseits schlüpft er nun in die Rolle Anthonys und dringt in dessen leere Wohnung ein; die bald darauf zurückkehrende Helen scheint sofort die „andere“ Identität des unheimlichen Hausgenossen (um nicht zu sagen: „Hausvaters“) zu ahnen, geht aber rücksichtsvoll, und dennoch nicht ungern auf das scheinbare Doppelspiel ein und fragt zudem ganz un-hintergründig nach dem Verlauf seines Tages „an der Schule“… Nach kurzem Nachdenken scheint sich Adam seiner ‚neuen Rolle‘ zu fügen, währenddessen im Radio von einem Autounfall die Rede ist, der zur Sperrung der Autobahn um Toronto geführt hat. Nur der Zuschauer weiß, dass es der Unfall des andern Paares war, das nach einem Streit (Mary zweifelt an ihrem Geliebten, weil dieser ihr die unberingte weiße Stelle seines Ringfingers präsentiert) im Auto den Heimweg angetreten hatte und ‒ tödlich? ‒ verunfallt ist. ‒ Im Schlussbild geht Adam seiner schwangeren Frau im ehelich-heimischen Schlafzimmer nach und begegnet dort dem unheimlichen überdimensionalen Kopf einer Spinne…


2. FILMKritik


Neben diesem wahrhaft verwirrenden männlich-allzu-männlichen Problemkomplex tun Bild, Schnitt und Musik des Films ein Übriges, um den Zuschauer zu desorientieren: Die Filmmusik kündet Unheimliches; die zunächst zusammenhangslos erscheinenden Schwenks über eine mit austauschbaren Plattenbauten bestückten und von Stromleitungen durchzogenen, im gelblichen Staub eines Sandsturms versinkende Megalopolis ‒ ein verfremdetes kanadisches Toronto ‒, die Kamerafahrt über leere Plätze oder durch dunkle Gänge und ‒ nicht zuletzt ‒ die drohend über der Stadtlandschaft schwebende Riesenspinne lassen die Zuschauer wie auch die meisten Filmkritiker verstört zurück. Zwar kann sich niemand der Atmosphäre des Unheimlichen, die dieser Film ausstrahlt, entziehen, doch am Ende findet so gut wie niemand zu einer Deutung, die für diese merkwürdige Umsetzung des bekannten Doppelgängermotivs eine schlüssige Erklärung liefert. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, wenn die Kritiken den Film zwar durchaus für sehenswert halten, die Entfaltung des Sujets aber nur mit Abwehr zur Kenntnis nehmen: «Der Thriller ist durchzogen von einem nahezu undurchdringbaren Symbolismus …» (Antje Wessels in mehrfilm) Oder: «Klassische Kinotugenden wie Identifikation und Spannung werden zwar nicht außer Kraft gesetzt, aber der direkte Zugang zu ihnen wird doch irgendwie erschwert bzw. von anderen „Lesarten“ durchkreuzt», beklagt sich der Filmkritiker Nikolaus Perneczky. Und beim Vergleich des Films mit der Romanvorlage von José Saramagos «Der Doppelgänger» kommt eine andere Kritik zum Schluss: «Doch leider muss ich mich jetzt doch in die Reihe der Buchverfechter eingliedern. Das liegt nicht nur daran, dass «Enemy» einer der wenigen Filme ist, den ich trotz erhöhter Aufmerksamkeit nicht sofort verstanden habe, sondern vor allem daran, dass das von Saramago virtuos aufbereitete uralte literarische Motiv des Doppelgängers zu einer Feindbildmontage verkommt, die am Ende auch noch mit einer „Moral von der Geschicht‘“ um die Ecke kommt.» (Buchbesprechung zu José Saramagos «Der Doppelgänger» in Wikipedia vom 11.6.2014)

Dass ein Kritiker einen Film «nicht sofort verstanden» hat, mag der Indifferenz zu verdanken sein, mit der mehr oder weniger professionelle Filmkritiker dem Objekt ihrer beruflichen Pflicht gegenübertreten. Manchmal mag auch der Zeitdruck ausschlaggebend sein; denn der nächste Film wartet schon und zu denkerischer Nachbereitung des letzten bleibt keine Zeit. Hier sind die Kritiker durchaus dem gewöhnlichen Kinogänger ähnlich, der einen Film vom schnellverdauten Popcorn, das er beim Sehen mampft, weder unterscheiden kann noch will.


Hinter der Verweigerung ist freilich ein anderes und nicht selten anzutreffendes Vor-Urteil zu entdecken, nämlich das abendländische Fantasma, nur verschriftete und zwischen zwei Pappdeckel gepresste Literatur sei die eigentliche, die «wahre» Vertreterin von Kunst: eine schnelle Denunzierung der vermeintlich „sekundären“ Kunstform gegenüber dem sog. „originären“ Vorbild. Das Vorurteil ist unausrottbar und gründet auf dem historisch-chronologisches Missverständnis, alle tradierten Künste – Literatur, Malerei, Skulptur, Musik, Architektur ‒ fußten auf dem Ursprung der griechischen Antike, und ein moderner Neuankömmling wie der Film (die Fotografie profitiert immerhin noch von der Malerei) könne daher nur ein Falschmünzer sein, der sich zu Unrecht den Namen ‚Kunst‘ zu erschleichen trachtet. Diese Fehleinschätzung kulminiert in der seit der Moderne unaufhörlich aufgeworfenen Frage nach dem, was denn eigentlich [heute] Kunst sei: Nicht von ungefähr wird diese Frage immer wieder begleitet von der anderen landläufigen Abqualifizierung „moderner“ Kunst in toto: «Das soll Kunst sein!? Das kann ich auch!» ‒ Etwa beim Anblick jener berühmten «Brillo»-Boxen von Warhol oder dem Pissoir von Duchamp…

Klar aber ist, dass ein Vergleich Literatur/Film nur dann sinnvoll ist, wenn dem Spezifischen des filmischen Kunstwerks Rechnung getragen wird. Film gründet immer auf Literatur ‒ und sei es nur, dass für gewöhnlich nach einem Drehbuch gearbeitet wird, das mehr oder weniger literarischen Kriterien Genüge tut. Je enger sich allerdings ein Film an die Schrift anlehnt und zu dessen Double wird, desto weniger ‒ so scheint es mir jedenfalls ‒ öffnet er sich für das Besondere des Filmischen. Deshalb sind z.B. einige von Alfred Hitchcocks Literaturverfilmungen (Daphne du Maurier: «Die Vögel» oder Cornell Wollrich: «Rear Window» u.a.) vor allem deshalb so ‚gelungen‘, weil die Vorlagen im eigentlichen Sinne „Kurzgeschichten“ sind, die dem Visionären des Regisseur genügend kreativen Freiheitsraum lassen. Hinzu kommt allerdings beim Film noch etwas, was ihn von der herkömmlichen Sicht auf Kunst wesentlich unterscheidet: der Film ist im Gegensatz zu den meisten anderen Kunstwerken immer schon ein kollektives Kunstwerk, das man nur aus alter Gewohnheit einem einzigen Individuum zurechnet, dem man im Deutschen die Bezeichnung „Regisseur“/‚Leiter‘ oder „Filmemacher“ gibt; im Amerikanischen wertet man ihn zusätzlich auf zum „director“‚Lenker, Vorschreiber‘, während man im Französischen bescheidener nur von einem „réalisateur“ spricht, d.h. von jemandem, der etwas ‚in die Wirklichkeit umsetzt‘ oder gar von einem parallel zum Theater gedachten „metteur en scène“, d.h. von einem ‚Inszenierer‘.


Jake Gyllenhaal… und Jake Gyllenhaal!

Spätestens bei der Sichtung der «Extras» auf der DVD-Version von «ENEMY» (Interviews von Denis Villeneuve, Jake Gyllenhaal, Isabella Rossellini u.a.) wird klar, dass der Film zwar auf einer Idee von José Samaragos «Der Doppelgänger» basiert, aber im Verlauf des Filmdrehs die Anregungen gemeinsamer Diskussionen von – mindestens ‒ Jake Gyllenhaal und den anderen Schauspielerinnen und Schauspielern mit eingeflossen sind, da wohl den meisten Beteiligten ‒ und auch dem Regisseur? ‒ im Voraus nicht immer ganz klar schien, wie das seltsame Doppelgängermotiv im Film zu begründen, zu interpretieren und filmisch umzusetzen sei. Gyllenhaal spricht sogar davon, dass in diese Figur sowohl seine eigene Erfahrung ‒ als Mann, sollte man ergänzen ‒ wie auch die des Regisseurs – als Vater? ‒ mit eingeflossen seien. Und selbst das unbefangene Interview mit Isabella Rossellini ‒ in der Rolle von Adams Mutter ‒ enthüllt, dass auch sie innerhalb des Drehs sowie noch danach nicht immer klar zwischen den Filmprotagonisten «Adam» und «Anthony» zu unterscheiden wusste! Villeneuve forderte offenbar von seinen Schauspielern fast Unmögliches: nämlich zu spielen, als ob der männliche Protagonist sowohl EINE wie auch ZWEI Personen sei. ‒ Dass dieses ebenso Un-Entscheidbare wie auch Un-Darstellbare seine Spuren beim Zuschauer hinterlässt, muss nicht weiter verwundern.


3. Verwirrspiel


Villeneuve führt uns durch eine Allee, gesäumt von Bäumen von Alfred Hitchcock (Vertigo), David Lynch (Mulholland Drive), Stanley Kubrick (Eyes Wide Shut) bis zu Roman Polanski (Rosemaries Baby), aber auch von Franz Kafka (Der Hausvater; Gregor Samson, Vor dem Gesetz) oder E.T.H. Hoffmann (Der Sandmann), um das DoppelgängerMotiv in einer neuzeitlichen, durch die immer gleichen WolkenkratzerArchitekturen vollgestellten modernen Großstadt plausibel zu machen: die Totale auf die Stadtarchitektur, der der Zuschauer ‒ und unser Adam ‒ von Anfang an ausgeliefert ist, trägt in dieser Hinsicht mehr dazu bei, dass neben der myriadenhaften Existenz am Reißbrett entworfener StadtarchitekturDoubletten das Auftauchen eines menschlichen (hier: männlichen) Doppelgängers letztlich nicht weiter überraschen muss: Warum sollte die fließbandgefertigte Stadtmöblierung nicht auch zur Vervielfachung der in ihr hausenden Menschen führen? – Das Heidegger’sche „man“ war schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Folie, der Kokon, auf die bzw. in der sich das angstvolle Subjekt der Moderne immer hat zurückziehen können ‒ zurückziehen müssen? Und seien wir ehrlich: eine Begegnung mit einem Doppelgänger/einer Doppelgängerin, sagen wir der Einfachheit halber, samstags etwa auf einer überbevölkerten ZEIL in Frankfurt, würde uns wohl wenig überraschen. Allein die ähnliche und austauschbare Möblierung der Fußgängerzonen, der Kauftempel und der sich mit immer denselben Kleidermarken ausstaffierenden Menschen trägt täglich dazu bei, dass wir uns nicht nur morgens im Spiegel, sondern auch nachmittags auf der Einkaufsstraße oder im Bürokomplex in einem anderen wieder begegnen. Die – dadurch ausgelöste? ‒ Gier nach Unterscheidung (sc. Identität) endet dann meist im nächsten Kaufhaus auf der Suche nach den neuesten Distinktionsobjekten, die uns die Modeindustrie vorhält. ‒ Von daher bedarf es aller schauspielerischen Anstrengungen nicht nur des Hauptdarstellern Jake Gyllenhaal, sondern vor allem auch der ihn einrahmenden drei Frauenfiguren, um den Eindruck von Unheimlichkeit auch fürs Publikum noch irgendwie spürbar zu machen; ja es scheint sogar, dass selbst die Protagonisten Adam und Anthony erst durch die Erregung der Partnerinnen ‒ d.h. von außen ‒ von der ungewöhnlichen Existenz eines Doppelgängers emotional berührt worden sind. Dass das „Unbewusste außen“ ist, wie Jacques Lacan postuliert hat, wird zum Ereignis.


4. Klinisches


Der Film konfrontiert uns mit der Überlagerung gleich dreier, zunächst disparat erscheinender klinischer Motive: das Motiv des Doppelgängers, welches das Subjekt als Spielball psychotischer und schizophrener Kräfte vorführt; das Motiv der Vaterschaft, welches das Subjekt der unausweichlichen Frage aussetzt: «Was ist ein Vater?»; und das phobogene Motiv der Spinne, dem das Subjekt nach der Passage aller Motivkomplexe am Schluss konfrontiert bleibt und mit dem der konsternierte Zuschauer schließlich nach Hause, an den heimisch-unheimlichen Herd entlassen wird. Alle drei Motive entwickeln sich zunächst anhand von Adams Außenkontakten, nähern sich im Laufe der Filmerzählung immer mehr seiner ehelichen Wohnung und verschmelzen am Schluss in einer Art Metabolismus am heimischen Herd bzw. im ehelichen Schlafzimmer. Als metaphorische Klammer wird der Weg des Protagonisten zusammengehalten vom Motiv der Spinne, die schon unmittelbar nach Filmbeginn in einer Art Traumszene auftaucht und nach und nach bildlich-szenisch immer weiter in den Vordergrund rückt. Der Begriff des Metabolismus vermag uns einen Hinweis auf das geben, was im Verlauf der Entwicklung der adamitischen subjektiven Identität geschieht: «Als Stoffwechsel oder Metabolismus … bezeichnet man die Gesamtheit der chemischen Prozesse in Lebewesen. Diese biochemischen Vorgänge dienen dem Aufbau und der Erhaltung der Körpersubstanz (Baustoffwechsel) und damit der Aufrechterhaltung der Körperfunktionen. Wesentlich für den Stoffwechsel sind Enzyme, die chemische Reaktionen beschleunigen und lenken (katalysieren).» (Wikipedia vom 25. 11. 2016)

Selbstverständlich ist ein solcher bio-chemische Prozess im Rahmen einer künstlerischen Produktion nur metaphorisch zu nehmen. Dennoch verweist die Definition nicht nur auf das Begehren nach der „Erhaltung der Körpersubstanz“ und auf lebensgeschichtliche „Enzyme“ als Katalysatoren der Identitätssuche, sondern auch auf ein durchaus logisches Endergebnis, das durch das Zusammenspiel mehrerer Faktoren zustande kommt: Doppelgänger, Vaterschaft und Phobie fließen am Ende in eins; freilich ohne als simple Auflösung der Konflikte wahrgenommen werden zu können; das Schlussbild der überdimensionalen Spinne im ehelichen Schlafzimmer entlässt wohl die allermeisten Zuschauer in derselben Verstörung wie den Filmhelden selbst.


Helen (gr. hélê): Sonnenglanz

Und hier mag es durchaus erwähnenswert sein, wenn eine Filmkritikerin namens Anna Li angesichts des schicksalsergebenen Adam sich am Ende zu folgendem Resümee veranlasst sieht: «Adam und Anthony sind nichts als dieselbe Person. Adam ist mit Helen verheiratet und hat eine Maitresse, Mary. … Die Spinne stellt die Schwangerschaft Helens dar…, was Adam aus der Bahn wirft, weil er sich wegen seiner Untreue schuldig fühlt. … Adam ist sein eigener „Feind“/“Enemy“». (Critique Cinéma 3.3.2014)

Doch: auch wenn diese übereilte und etwas kurzschlüssige Hypothese prima vista als roter Faden dienen kann ‒ und dabei weit über die Hilfslosigkeiten anderer FilmkritikerInnen hinausgeht ‒, so bleibt dennoch die Frage, wie es dem Filmregisseur im Detail gelingt, die drei Motive zu einem Kondensat zusammenzuführen, das Unheimlichkeit verbreitet. Das Postulat einer einfachen Metapher reicht da zur Erklärung nicht aus.

5. Angst


«Die Angst ist das, was nicht täuscht.»
Jacques Lacan

Gehen wir also bedächtiger und genauer vor, um dem doch komplexeren Metabolismus auf die Spur zu kommen ‒ und bedienen wir uns dreier psychoanalytischer Erklärungsansätze für Adams tripolares Spannungsfeld, in dessen Arena das Subjekt zu agieren hat. (Wir stellen bei dieser Deutung das männliche Subjekt Adam in den Mittelpunkt, obgleich nicht auszuschließen ist, dass die Filmgeschichte durchaus auch aus der Perspektive der drei Frauen, die Adam gleichsam um- bzw. einschließen, zu erklären sein könnte.) Wir bewegen uns also auf den Spuren eines Komplexes dreier klinischer Fälle ‒ Schizophrenie-Psychose, Phobie ‒ und dem Versuch der Konstituierung einer Identität angesichts der Herausforderung eines Subjekts, das sich seine neue Rolle als „Vater“ suchen muss. Letzteres kann nur gelingen, wenn die Bindung an die Mutter und das Fantasma ihrer Phallizität gekappt sind. Aber allen diesen drei Stadien ist gemeinsam die Angst, die das Subjekt heimsucht und ‒ je nach der Phase seiner Entwicklung ‒ Gefährdungen aussetzt, die sich am Ende als circulus vitiosus erweisen.


Die Angst ist das, was das Subjekt bewegt, es affiziert. Sie ist der eigentliche Affekt“, postuliert der Psychoanalytiker André Michels im Anschluss an den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan. In jeder Liebesbegegnung ‒ präziser: dem Stadium der Verliebtheit ‒ kommt es zu einem schmerzhaften Wandel, zu einem Bruch mit allem Vorherigen; Leidenschaft beherrscht eine Zeitlang das Leben der Verliebten, solange das „Objekt“ der Liebe nicht „zu Fall“ und es nicht zu einer „Übersetzung“, einer Metaphorisierung der Liebe gekommen ist. Das bedeutet aber vor allem, dass der Name des betroffenen Subjekts selbst, insofern es einer Transformation ausgesetzt ist, zum Ort eines meist schmerzhaften Sinnverlusts wird. ‒ Tritt der Wandel des Objekts nicht oder unvollständig ein, wie im vorliegenden Fall bei Adam bzw. Anthony, dann kommt es vor allem beim Psychotiker zu einem realen „Fall“ oder zu einem „Un-Fall“. «Den Verlust erlebt er wie eine extreme Bedrohung, welche die Integrität des Körpers in Frage stellt und ihn in eine kaum begrenzbare (psychotische) Angst versetzt. […] Der Wahn, der diesen Mangel wettzumachen versucht [ist] in letzter Instanz immer ein Filiationswahn (délire de filiation), d.h. der Versuch einer Rekonstruktion sowohl der Körperintegrität als auch der Generationsabfolge.» (Michels) Und wird nicht gerade das Ereignis der Schwangerschaft – sowohl aus weiblicher wie vor allem auch aus männlicher Sicht – nur allzu oft als «Unfall» betrachtet, der zu einem unabweisbaren Bruch in der Lebensgeschichte führt (führen muss)? Die in diesem Zusammenhang auftauchenden Ängste können als Signale bzw. Hinweise auf «die Vorherrschaft des Fremden, des ganz Anderen im eigenen Haus» empfunden und gedeutet werden, die im Stadium des Verliebtseins der Verdrängung anheimfallen und sich danach mit umso größerer Macht wieder bemerkbar machen. «Das führt zu häufigen Missverständnissen und Fehlinterpretationen, die meist auf einer Verwechslung von Angst und Macht hinauslaufen.» Hier findet sich das betroffene Subjekt einem Wiederholungsprozess konfrontiert, dem es nicht ausweichen kann: «Soweit sich das Subjekt auch hinauswagt, es wird sie [sc. die Wiederholung] immer wieder auf seinem Wege vorfinden, als die untrügliche Marke seiner Herkunft, eines Verlusts nämlich, der von Anfang an zugegen und mitgegeben war, ihm sozusagen in die Wiege gelegt worden ist.» (A. Michels: Angst, Zeit und psychische Struktur, 1998; S.98f., 101 und 103) Angst wirkt demnach als «Grenzfunktion», die sowohl als eine Schutz- wie auch als eine Trennungsfunktion erfahren werden kann; immer aber spaltet sie das Subjekt auf in ein entweder nach seinem Selbst und/oder nach dem Objekt (seines Begehrens) Suchenden bzw. Irrenden…

In seiner Not greift das Subjekt daher oft zu einem Maskenspiel, mit dem das Kind schon früh konfrontiert war. Und je nachdem wie dieses Maskenspiel szenisch gehandhabt wird, kann es entweder zum erlösenden Lachen oder zum verstummenden Weinen, d.i. zum sprichwörtlich gewordenen Zustand von ‚Furcht und Schrecken‘ führen.

Als Gegenpart der Angst tritt die «Kontrolle» (A. Michels: «Macht») auf den Plan, und es stellt sich dann die Frage, ob die Angst zugelassen und (vorübergehend) eingedämmt werden kann (im Fall der Neurose) oder ob sie vom Subjekt Besitz ergreift und es der Psychose überantwortet.

Und in der Tat ist «Kontrolle» das erste Wort, das unser Adam vor versammeltem Auditorium im Hörsaal beschwörend deklamiert. Er umschreibt damit die Bestrebungen so gut wie aller geschichtsnotorischer autoritärer Staatssysteme, die sich die Macht sichern wollen. Ihr Ziel ist in der ganzen Welt gleich, nur die Mittel sind je nach Zeit und Ort verschieden. Das Römische Reich, so doziert der Geschichtslehrer, bedient sich etwa der Mittel von «Brot und Spielen», um das Volk über seine Unfreiheit hinwegtäuschen und ruhig halten zu können… Adam enthält sich in seinem Vortrag zwar jeglicher Bewertung des sozio-politischen Dispositivs dieser Kontrollsucht, und weder die Zuhörer noch die Zuschauer – also wir! ‒ wissen, ob er es als unvermeidlich darstellen oder kritisieren will. Nichtsdestotrotz informiert uns aber die Psychoanalyse, dass uns diese Unentschlossenheit einen Hinweis gibt auf den Zustand des Subjekts der Äußerung selbst: Adam spricht von sich, von sich als einem Subjekt in seiner persönlichen Lebenskrise, das im Konflikt zwischen Kontrolle und Öffnung ‒ und das will sagen: Rekonstruktion ‒ der Identität hin- und hergerissen ist. «Brot und Spiele» sind dabei bloße Mittel und Rahmenbedingungen, die den Prozess der Identitätssuche forcieren.


6. PHOBISCHES
«Ich sah mich mich sehen.»
Paul Valéry

Die Filmeröffnung konfrontiert den Zuschauer mit dem schon erwähnten, von gelbem Sand überdeckten Großstadtpanorama. Die während des Filmgeschehens immer wieder eingestreuten film stills der Großstadtperspektive mit ihren beängstigend leeren Plätzen, die oft nur durch Oberleitungen zusammengehalten scheinen, sowie der Blick auf leere Fensterhöhlen („blinde Augen“…) der Hochhäuser geben von Anfang an die Atmosphäre von Anonymität und Verlorenheit vor, in der sich der „moderne Adam“ nicht heimisch fühlen kann. Die Filmtotale auf das bildeinnehmende Großstadtpanorama bietet dem Auge keinen Punkt, an dem es zu verweilen vermag: es fehlt zunächst ein Flucht- oder ein Geometralpunkt, d.h. buchstäblich ein „eye catcher“, der die Möglichkeit schafft, das Bild zu strukturieren.


Leere, Austauschbarkeit und Anonymität lösen Unbehagen aus, die sich im wirklichen Leben zu einer Angsthysterie auswachsen kann: wir sind der Sicht eines Agoraphobikers ausgesetzt, die zugleich mit ihrer Rückseite – der Klaustrophobie ‒ verschmilzt, wenn uns, wie in der Eingangssequenz des Films, die Kamera durch dunkle, enge Gänge führt.


Wie der Protagonist ist auch der Zuschauer dem BLICK einer unüberschaubaren, «chaotischen» Stadt- und Seelenlandschaft ausgeliefert, die sich zunächst der Entzifferung entzieht: Von überall her ‒ d.h. von außen! ‒ werde ich angeblickt, und das erzeugt ein Gefühl von Desorientierung, denn die Augen, die mich anblicken, sind überall! Da diese ‚tausend‘ Augen dem Auge eines Insekts ‒ etwa einer Gottesanbeterin… ‒ gleichkommt, wird mein Eigen-Bild (narzisstisch) nicht wider-gespiegelt: das ‚Ich’ löst sich auf in eine Vielzahl von Facetten, d.h. es geht „zu Bruch“. Daher braucht es, um das narzisstische Bild wieder herzustellen, eines «Blickpunkts» (Lacan), der die unüberschaubare Weite des Angeblicktwerdens fokussiert und damit die Angst in ihrer Verkleidung der Agoraphobie bannt. Dieser Blickpunkt manifestiert sich im phobischen Element, das je nach Subjekt und dessen psychischer Erfahrung immer unterschiedlich ausfällt: bei Freuds „kleinem Hans“ ist es ein Pferd, bei andern eine Schlange, ein Krokodil … und bei Adam eine Spinne. Der Blickpunkt fungiert so buchstäblich als Fluchtpunkt, auf den sich das blickende Subjekt zurückziehen und sich vorläufig wieder „sicher fühlen“ kann.


Das Dispositiv des «Blicks» wird dadurch umgekehrt, d.h. letztlich überlagert: die „Sicherheit“ des Blicks wird erkauft durch die Reduktion des Blicks eines vermeintlich intakten Subjekts. Das phobische Element schreibt sich ins normal-neurotische Dispositiv ein: Das «Ich sehe» will den Geometralpunkt okkupieren und das «es blickt» unterdrücken bzw. invisibilisieren. Doch Ziel wäre die Dezentrierung des Subjekts, «seine Ver-rückung aus dem Bildzentrum … zugunsten der Befreiung des „es zeigt“». (Annette Bitsch; 2013) Adam gelingt das nicht. Die Verschränkung wird Movens:


Die Psychoanalyse spricht der Angstphobie eine eigene Struktur zu; ihre Grundlage ist jenes «Fort/Da» der Bezugsperson des Kindes, der es nach der Geburt ausgesetzt war und von der es sich Zeitlebens in Phasen des Verlassenwerdens wieder abhängig erkennt. Das ist der Blick am Rande des Spiegelbilds, dem wir jeden Tag ausgesetzt sind! ‒ Sigmund Freud analysierte das am Fall des «kleinen Hans», der sich aus Angst, ein Pferd könne ihn beißen, weigert, ohne Begleitung auf die Straße zu gehen. Die Verbindung zwischen der Platzangst auf der Straße und dem Symptom der Pferdephobie führt Freud auf den Weg in die Familienverhältnisse des kleinen Mannes und lässt ihn einen übermächtige Mutter und einen schwachen Vater entdecken. Die Phobie taucht zudem inmitten der Herausbildung der „phallischen Phase“ des Knaben auf und wird verstärkt durch die Ankunft eines Schwesterchens, das für den Kleinen die Frage nach der Geschlechtsdifferenz und -rivalität aufwirft. Der kindliche Wissenstrieb über die sexuelle Differenz löst im Knaben eine obsessive Aktivität kindlicher Sexualphantasien aus: es geht ihm u.a. um die Bezeichnungen sexueller Attribute („Wiwimacher“), der Abstammung (Filiation) und um seine Situierung innerhalb der Familienordnung (Differenz und Konkurrenz zur Schwester, Zuwendung durch die Eltern etc.). Freud, der den Knaben nicht selbst in Analyse hat, sondern nur den an Psychoanalyse interessierten Vater berät, fungiert nichtsdestotrotz als externer großer Allwissender, als «großer Anderer» (Lacan) ‒ vgl. Hans: „Spricht der Professor mit dem lieben Gott?“ (S. Freud 1909; S.41) ‒, der die kindliche Allmacht in ihre Schranken zu weisen und dadurch die schwache Position des Vaters als (phantasierter) Rivale bei der Mutter (Hans: „… du tust eifern…“; S.74) zu kompensieren vermag. Der «Professor» übernimmt die eigentlich väterliche Funktion der «Kastration»: die Trennung des Kindes von der übermächtigen Mutter.

Es bedarf allerdings durchaus einiger Anstrengungen, um die nach „Pulp Fiction“-Manier eines Quentin Tarantino montierten Filmszenen in «ENEMY» im Kontext des phobogenen Motivs zusammenzuklauben. Spuren und Fäden, ja sogar Beine und Kopf der Spinne können dabei durchaus als Führer aus dem digitalen Irrgarten helfen. Einen entscheidenden Hinweis liefert uns dann das Auftreten der Spinne über der Stadt im Zusammenhang mit Adams ‒ ersten und einzigen face-to-face-Gespräch mit der Mutter.


Begründungen, weshalb Villeneuve ausgerechnet zur phobogenen Bildmetapher der Spinne (Arachne, ‚spider‘, ‚l‘araignée‘) greift, liefern uns ‒ soweit ich sehe ‒ weder Filmplot noch Filmgeschehen (also die Lebensgeschichte des kleinen Adam), und auch nicht die Aussagen des Regisseurs. Die Metapher ließe sich allenfalls durch zusätzliche Assoziationen plausibel machen, die auf a) die Dominanz der Mutter in Adams Leben, in dem er gleichsam an den Fäden der Mutterspinne kleben geblieben ist, und b) die Parallelen mit den elektronisch-digitalen Kommunikationsnetzen der modernen Gesellschaft verweist. Die Strom- und Straßenbahnleitungen werden oft als filmstills eingeblendet, die Kameraperspektive wirft meist einen Blick von oben auf jene Szenen, die im Freien spielen (Helikoptering der Mutter?); zudem werden Telefongespräche ‒ Vorherrschaft der Stimme! ‒ für die Rekonstruktion der Identität zentral.


Die bildende Künstlerin Louise Bourgeois freilich hatte auch schon Gefallen an der Spinne als Muttermetapher gefunden; für sie diente die Spinne als Metapher der schützenden Funktion der Mutter:

«Der Freund (die Spinne – warum die Spinne?)
weil mein bester Freund meine Mutter war und sie
war überlegt. Intelligent, geduldig, friedfertig, vernünftig,
zurückhaltend, edel, unerlässlich, rein und nützlich wie eine
Spinne. Sie wusste sich auch zu verteidigen, und auch mich zu verteidigen, indem
sie sich weigerte, auf „dümmliche“ Nachstellungen und indiskrete persönliche Fragen zu antworten.
Ich werde nie damit aufhören, sie darzustellen.
Ich möchte: essen, schlafen, reden, verletzen, zerstören…
Warum?
Meine Gründe gehören nur mir allein.
So geht man mit FURCHT um.»
(Louise Bourgeois: Ode an meine Mutter; S.335. ‒ Übersetzung HPJ) ‒

Und genau wie bei Louise Bourgeois müssen auch wir bei Adam davon ausgehen, dass die «Gründe … nur mir allein» gehören, und das phobische Element der Spinne deswegen zudem nicht als Schutz, sondern als Bedrohung erscheint. ‒ Aufgrund dieses fehlenden Hinweises müssen wir uns von daher ‒ vorläufig ‒ durch Spekulationen weiterhelfen und herausfinden, ob uns das zum Gesamtverständnis des Films weiterhilft.

Im Darkroom: Anthonys Ring

Das Faszinosum „Spinne“ taucht freilich schon früh im Film auf: In einer an Stanley Kubricks «Eyes Wide Shut» gemahnenden Szene wird dort durch halbbekleidete Damen auf einem silbernen Tablett unter den faszinierten Blicken meist älterer distinguierter, fast mafiöser Herren eine krabbelnde fette Spinne per weiblicher Highheels vom Leben zum Tod befördert. Das phobische Element erhält seine Hinrichtung im Alt-Herren-Dark Room durch die dort verpflichteten verruchten Halbwelt-Damen, die gleichsam im Unterboden des bourgeoisen Gesellschaftstheaters als willkommene, perverse Abwechslung zum drögen Familienleben gehalten werden. Unter den sich wonnig-verstörender Faszination hingebenden und dabei die Krawatte zurechtrückenden wohlsituierten Senioren befinden sich auch Anthony (d.i. der „Unschätzbare“)nebst seines überwältigten Concierges, der später um einen weiteren Besuch in diesem Etablissement betteln wird. Es handelt sich offenbar um ein beliebtes Gesellschaftsspiel der reichen Haute-volée Torontos. Der Schlüssel zum Dark-Room wird dem Schauspieler an die (Doppel-)Adresse seiner Agentur geliefert ‒ und lässt den am Ende quasi zu ‚sich selbst‘ findenden Adam nachdenklich und voller Hintergedanken zurück.

Tod auf silbernem Teller

Der Reiz und die Gefährlichkeit des bürgerlichen Doppelspiels gewinnt augenscheinlich und bekanntermaßen ja gerade durchs Verbotene und Geheimnisvolle zusätzlichen Reiz; der Regisseur hat es zudem noch gewürzt durch eine Prise ehebrüchlerischer Verruchtheit, indem er das Motiv des beringten und unberingten Fingers mit einbringt. Das helle Mal am unberingten Finger wird dann später auf die Camouflage des Ehebruchs verweisen; es wird zum Motiv der Entdeckung der Geliebten, dass sie sich (ab nun?) einem verheirateten Liebhaber hinzugeben habe; Mary aber wird dieses Spiel nicht mitspielen; sie erkennt im Geliebten den Ehebrecher und Betrüger ‒ den «Feind».


Die Aufrechterhaltung des Zweitlebens hätte sich nur erfüllen lassen, wenn sich die Geliebte auf die Gepflogenheiten und Bequemlichkeiten des auf eine Hintertür fürs bürgerliche Eheleben bedachten Adam eingelassen hätte. Die weiblichen Stilettos ‒ schon zuvor von Anthony sehnsüchtig bei Marys Busfahrt bewundert ‒ sollten per Todesstoß auf die ‚Spinne‘ von der beißenden Schuldrepräsentanz und der mütterlichen Umklammerung zumindest von Zeit zu Zeit befreien… Doch Mary will sich auf derlei bourgeoise Versteckspielereien nicht einlassen. Ein verheirateter Adam wird ihr zum Fremden. ‒ Das „Mary“ des Namens mag hier auch in seiner Mehrdeutigkeit auf den verborgenen weiblichen Imperativ „marry [me]!“ hindeuten. Und zum «Feind» (enemy) wird hier nicht nur der sexgierige und von seinen Macho-Allüren nicht ablassen wollende Anthony für Adam, sondern auch der ‚neue‘ Adam für Mary.



7. Schizo


Das ‚Spiel‘ entpuppt sich demnach als mehr oder weniger simples Doppelwohnsitz-quid-pro-quo des Protagonisten, der sich neben seinem Brotberuf als Literaturlehrer ein Zubrot als Gelegenheitsschauspieler verdient. Da sich bürgerliche Realität und triumphales männliches Allmachtsgehabe des Allerwelts-Adam nicht ohne weiteres miteinander vereinbaren lassen (selbst die künstlerisch angehauchte Mutter spricht von einem «drittklassigen Schauspieler»), versucht sich Klein-A einen Notausgang als zukünftiger Familienvater offen zu halten und behält die wohl aus studentischen Zeiten noch überkommene Zweiwohnung weiter bei ‒ als Liebesnest einer in einer Parallel-Amour geschauspielerten folie à deux. ‒ Der Schlaf der braven Bürgerlichkeitsvernunft gebiert auch und gerade in der modernen anonymen Großstadt immer noch Monster.

Arachne, nach Gustave Dorés Illustration von Dantes «Hölle», 1861

Doch Klein-A hat die Rechnung ohne die Mutter gemacht! Sie ist immer anwesend, nicht nur dank der unsichtbaren Drähte und Fäden des Mobil-Netz(!)-Telefons. Manifest taucht sie zwar nur einmal auf, doch ihre Fäden sind immer sichtbar, sodass wir darin den Grund für die Spaltung des Subjekts Adam lesen können.

Mutter

Unter Schizophrenie versteht das französische Wörterbuch der Psychiatrie eine «schwere Psychose vor allem bei jungen Erwachsenen, die für gewöhnlich chronisch auftritt und sich klinisch durch Kennzeichen von geistiger Auflösung, affektiver Beeinträchtigung und unzusammenhängenden wahnhaften Aktivitäten bemerkbar macht und im Allgemeinen begleitet wird von einem Abbruch jeglichen Kontakts zur Außenwelt und einem autistischen Rückzug des Betroffenen». (Dictionnaire de Psychiatrie, Larousse 1993) Eugen Bleuler war es, der als Erster ab 1908 und später in seinem «Handbuch der Psychiatrie» (1911) den Begriff in die klinische Diskussion eingeführt hat und dadurch auf eine Spaltung (gr. schizein) des Geistes (gr. phrēn) hinweisen wollte. In seinen metapsychologischen Schriften und vor allem in seiner Abhandlung «Über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia» (Der Fall Schreber) von 1911 nimmt Sigmund Freud zeitgleich den Vorschlag Bleulers auf, löst ihn aus dem engen klinisch-medizinischen Zusammenhang und sieht darin Mechanismen des normalen psychischen Lebens, die durchaus eine eigenständige, von der Psychose gesonderte Struktur bilden. Er analysiert darin eine Fixierung auf eine passive Verdrängung, bei der ein Teil der Libidoentwicklung sich nicht ‒ wie zu erwarten ‒ normal entfaltet, sondern auf einem infantilen Status verharrt («Fixierung»). Es kommt zu einer Abspaltung der Libido vom kindlichen Liebesobjekt (Mutter, Vater …) und zu einer Regression der entbundenen und somit frei flottierenden Libido, die im psychischen Gebäude zu einem Einbruch des Imaginären und einer Wiederkehr des Verdrängten im Realen führt; es bilden sich Halluzinationen, die sich entweder in Überbesetzungen von Objekt- oder (wie Freud in seiner Arbeit übers Unbewusste 1915 feststellt) von Wortvorstellungen niederschlagen. Das Wort verliert dabei seinen metaphorischen Sinn, verwandelt sich in einen realen Wahn. An dieser Grenze zur Sprachwissenschaft nimmt Jacques Lacan mit seiner Hypothese, dass das Unbewusste strukturiert ist wie eine Sprache, den Faden wieder auf, um darzustellen, dass der von Freud konstatierte Einbruch des Imaginären ins Reale durch den Mangel der väterlichen Metapher, dem sog. Namen-des-Vaters, der der Begrenzung der metaphorischen Funktion der Sprache dient, verursacht wird. Der Name-des-Vaters ist eine Art „Stepp-Punkt“, welcher der frei flottierenden Signifikantenkette Einhalt gebietet und es erlaubt, etwa ein Symbol aus der realen in die symbolische Ordnung zu transponieren (d.h. es zu „entrealisieren“). Die Verwerfung des Namens-des-Vaters, die totale Abweisung des symbolischen (d.h. sprachlichen) Universums dieses grundlegenden Signifikanten durch das Subjekt lässt die «Wiederkehr» nur im «Realen» der halluzinatorischen Welt des Schizophrenen zu.

In der Psychose bleibt «jedes Symbol real» (Lacan), es gibt keine Trennung der von Lacan im sog. Borromäischen Knoten verbundenen drei «Register» des «Symbolischen» (Sprache), «Imaginären» (Einbildung) und «Realen». Und im Falle von Denis Villeneuves Welt des «ENEMY», in dem der NAME des Vaters nicht auftaucht und als „verworfen“ zu gelten hat, taucht die Kastrationsdrohung ‒ als Wunsch nach Trennung von der verschlingenden Mutter ‒ infolgedessen als Halluzination im Realen wieder auf.


8. VERWERFUNG


Die Verwerfung schließt den Signifikanten des Namens-des-Vaters aus der Realität aus und führt in Gestalt einer Wiederkehr des Verdrängten zur Manifestation eines halluzinatorischen Bildes in der Welt: Jacques Lacan scheidet damit die Psychose von der Neurose und der Perversion. Bei aller Verfangenheit in dieser logischen Struktur ist es daher nicht weiter verwunderlich, dass der ‚reale‘ Vater – und damit der „Name-des-Vaters“ ‒ im Film nie auftaucht.

Dafür aber lernen wir (in einem einzigen Auftritt souverän gespielt von Isabella Rossellini) eine Mutter kennen, die sich neben ihrer künstlerischen Mal-Leidenschaft als zielbewusste und bodenständige Maman erweist, die offenbar erst nach dem Ableben oder Verschwinden ihres Mannes zu vollem weiblich-emanzipatorischer self-empowerment gelangt ist. Dem verstörten Adam auf seiner Passage zur Vaterschaft bringt sie eindringlich die Pflichten eines zukünftigen Vaters und treusorgenden Ehemanns in Erinnerung: „Das Letzte, was du brauchst, ist, dich mit einem fremden Mann im Hotelzimmer zu treffen! … Du hast schließlich genug damit zu tun, dich um eine Frau kümmern! … Ich denke, du solltest dich endlich von der Phantasie verabschieden, ein drittklassiger Schauspieler zu sein!“ – Nicht von Ungefähr lässt sich hier die Stimme der in der Vergangenheit den Extravaganzen des Ehemanns (Darkrooms!) ausgelieferten Gattin hören: Die Mutter will jetzt dafür sorgen, dass der Sohnemann nicht in dieselben Fußtapfen des Patriarchen tritt.


Die Dequalifizierung als «drittklassigen Schauspieler» könnte also auf den abwesenden Ehegatten gemünzt sein, dessen keinesfalls un-erwartete Wiederkehr sich im Sohn gerade abzuzeichnen scheint. ‒ Auch Adams Apfel fällt nicht weit vom Baum… ‒ Vorerst ist diese Gefahr allerdings noch nicht gebannt. Die durch die Filmmontage zerschnittene biografische Chronologie von Klein-A (Adam) als Groß-A (Anthony) scheint schon vorher in die Katastrophe geführt zu haben, die dem Phantasieleben ein jähes Ende bereitet hatte. Denis Villeneuve will uns freilich darüber bewusst in Unkenntnis lassen und die Frage nach der Narbe an der Brust, die sich ja schließlich und letztendlich als das entscheidende und manifeste – von der Mutter ausdrücklich bestätigte ‒ Merkmal der Identität beider A‘s erweist, geheimnisvoll verbrämen. Die Pänultima ‒ d.h. die vorletzte Szene, die im gängigen Erzählmuster immer ein sog. retardierendes Element vorführt, bevor der (tragische) Held ins Unglück stürzt oder der entdeckte (komödiantische) Hahnrei die Waffen streckt (siehe Kleists Zerbrochener Krug), schildert uns den Unfall des schließlich auf den letzten Platz hinter den drei Frauen (Mutter, Gattin, Geliebte) verwiesenen Muttersöhnchens: die fantasmatische Figur einer Evasion verfängt sich endgültig im letalen Netz der Mutter.



9. FEINDLICHES


Der imaginäre Doppelgänger tritt innerhalb der schizoiden Spaltung des Subjekts auf als ein persönlicher FEIND. Otto Rank hat hier schon auf die psychische Funktion der Begegnung des Subjekts mit seinem Doppelgänger hingewiesen: «Der Doppelgänger erweist sich in dieser subjektiven Bedeutung als ein funktionaler Ausdruck der psychologischen Tatsache, dass das derart aufgestellte Individuum von einer bestimmten Phase seiner narzisstisch geliebten Ichentwicklung auch loskommen kann, die ihm immer und überall wieder entgegentritt und seine Aktionen in einer bestimmte Richtung hemmt.» (Rank, 1925; S:109f.) Das Subjekt muss einen Zwiespalt ausagieren, der es zu zerreißen droht.

Daher mag die Vermutung erlaubt sein, ob die dem Filmpublikum vorgesetzte Münchhauseniade in Form eines Autounfalls vielleicht nicht auch einen realen Hintergrund hat, der sich in der Narbe an der Brust des Protagonisten (Adam’s rip!) für alle Zukunft dokumentiert. Die Narbe stünde von daher im Ansatz auch als Marke der symbolischen «Kastration», die anzuerkennen das Subjekt gehalten wäre. Trotz des zertrümmerten Wagens mag zumindest Adam/Anthony dem Tod entronnen sein, während die Partnerin im Netz der Mutterspinne verendet sein könnte. Einen Teil des düsteren, schuldbehafteten Schattens einer Melancholie mag davon vorher schon aufs Ich gefallen sein; erklärlich wäre dadurch immerhin die offen zutage tretende Antriebslosigkeit des Literaturlehrers (und zukünftigen Vaters). Im Verein mit einem paranoischen Schuldbewusstsein ließen sich dann auch die anderen psychischen Verhaltensallüren Adams erklären. Wie bekannt zeichnet ‒ nach Sigmund Freud ‒ der Mechanismus der Verdrängung sowohl das Feld der Psychose (wie auch der Neurose) dadurch aus, dass sich die Libido von der äußerlichen Welt zurückzieht und einer Regression aufs Ich (und nicht aufs fantasmatische Ersatzobjekt wie in der Neurose) Raum gibt. Und im Unterschied zur Paranoia bilden sich bei der Schizophrenie Mechanismen der Wiederkehr des Verdrängten als Symptome aus, die sich in der realen Welt manifestieren. Die Frage nach der Genese dieser Symptome wird im Film freilich offen gelassen; von daher die Hilflosigkeit der Filmkritiker/innen bei ihrer Suche nach einer kohärente Deutung des Films.

Spiegelfunktion: Who is who?

Adams Inversion, d.h. sein mehr oder weniger bewusstes (gleichsam Schreber-haftes) Durchschreiten der Psychose scheint aber gleichwohl erkennbar zu werden; nicht nur sehen wir ihn in Helens Wohnung beim Blättern in einer Zeitschrift mit dem Titel «Cycle»/Zyklus/Kreis, sondern vor allem beim bedeutungsschwangeren Griff nach dem Foto auf dem Wandboard; das Foto gehörte vorher zu Adams Bestand und taucht nun plötzlich – aber nach den vorgestellten Deutungsversuchen keineswegs unerwartet! ‒ im Appartement von Anthony und Helen wieder auf: eingerahmt von der Figurine einer metallenen Spinne und einem Buch mit dem Titel «Art of Peace»/«Kunst des Friedens» führt es in den Händen eines anscheinend geläuterten und (wieder)vereinigten Adam-Anthony in den bürgerlichen Ehehafen (zurück). ‒ So viel zur «Moral von der Geschicht‘». (Und ist das Einhorn im Hintergrund etwa ein Augenzwinkern, die «Geschicht‘» doch nicht allzu ernst zu nehmen…?)






10. ZIRKULÄRES


Gleichwohl aber bleibt das Subjekt in seiner Ichentwicklung eng verbunden mit den Fesseln seiner Vergangenheit, und es ist nötig, den spezifischen Ausweg nachzuzeichnen, den Adam dabei wählt. Auch hier gibt uns das psychoanalytische Modell wieder einen Wink.

Die Phobie erhält einen Status, der weder von Freud noch von Lacan eindeutig definiert ist. Es stellt sich die Frage, ob sie nicht der Effekt der Urverdrängung ist und deshalb „neurotisiert“, d.h. als Neurose in der analytischen Kur behandelt werden kann. Ist die Phobie Effekt einer Verdrängung, dann verweist sie auf eine nicht-erfolgte «Kastration» und taucht als Forderung nach symbolischer Kastration «im Realen» wieder auf: beim «kleinen Hans» als Pferd und bei Adam als Spinne. Beide Male ist ihnen eine Drohung gemeinsam: der «Biss», der die Angst vor dem Verlust des Penis übersetzt. ‒ In seiner „modernen“ Version bei Adam ‒ d.h. im Zeitalter der Telematik ‒ wäre demnach der «Biss» sogar durchaus wörtlich zu nehmen: als (elektronisches) «bite»/«byte»! ‒

Was aber bei Adam zur Debatte steht, ist ‒ ähnlich wie beim «kleinen Hans» ‒ nicht so sehr die «Drohung» der «Kastration», sondern ihr Einklagen! Das enge Band zwischen Mutter und Sohn ist nicht zerschnitten; und dieser Mangel taucht bezeichnenderweise genau an jenem Punkt der Lebensphase von Adam auf, in der er den Übertritt zum Vater vollziehen muss! ‒ Und hier könnte der «Fall Adam» durchaus als Parallele zum «Fall Schreber» gesehen werden, bei dem die Psychose genau zum Zeitpunkt seiner Ernennung zum Gerichtspräsidenten ‒ einer andern Art von Vaterrolle ‒ ausbricht. ‒ Das Subjekt ist der Frage «Was ist ein Vater?» konfrontiert. Die Antwort verlangt nach einer völligen Neu- oder Re-Strukturierung des Subjekts. Das Auftauchen immer neuer Ansichten der Spinne im Film kommentiert die Dringlichkeit dieser Aufgabe.

Entgegen aller Widrigkeiten scheint unser Adam den Weg zur Neurotisierung seiner Phobie durchschreiten zu können; schon zuvor deutet die Inversion des Bilds der Spinnenfrau einen Ausweg an: das phobogene Element wird von den Füßen auf den Kopf gestellt und damit als imaginäres Bild fixiert.

Inversion: Kopf der Spinnenfrau

Anders aber als Freud deutet Lacan das phobische Element allerdings nicht als Vertretung des ‒ schwachen ‒ Vaters. Das halluzinatorische Auftreten der Spinne im Zusammenhang mit der Mutter weist im Film einen anderen Weg: zwar geht es auch hier um die «symbolische Kastration», doch sie wendet sich nicht an den Vater. Das Übermächtigwerden des phobischen Elements ist eher das Zeichen an die Mutter, den Sohn loszulassen! Da allerdings weder ein Vater oder ein anderer «großer Anderer» (wie Freud beim «kleinen Hans») zur Verfügung steht, besteht die Gefahr, dass die Psychose am phobogenen Element, also an die Mutter, fixiert bleibt. M.a.W.: der Teufelskreis ist noch nicht durchbrochen und der versprochene «Friede»/«Peace» immer noch nicht in Sicht…

***

Im Anschluss an Lacans Ausführungen zur Struktur des Blicks (Seminar XI: «Die vier grundlegenden Begriffe der Psychoanalyse») entwickelt Charles Melman die Theorie der Phobie als eine «Krankheit des Imaginären»: die Agoraphobie organisiert Phobogenes, weil leere Plätze dem Blick und der Sicht keinen Halt bieten; in Gestalt eines «automaton» taucht daher oft ein Tier auf, das als «Blickfang» oder Fluchtpunkt dient. Mit diesem «Fleck» im Raum identifiziert der Schauende dann den Platz seines eigenen Blicks. Während das neurotische Subjekt «einen Tribut an den [großen] Anderen [sc. Gott, HPJ] auf der Ebene des Imaginären durch die Erfindung eines phobogenen Tieres» leistet, gelingt dem Phobiker das nicht; der Neurotiker stopft das Loch im Symbolischen durch das Tier; doch da für den Phobiker das Loch im imaginären Register lokalisiert ist, bleibt für ihn der geforderte Tribut unendlich; mit andern Worten: die «Kastration» bleibt en suspense, aufgeschoben: der Blick kann die Differenz der Geschlechter nicht realisieren! ‒ Könnte das der Grund dafür sein, dass im Filmtitel das «N» oblik erscheint: ein Verweis auf die mathematische Bedeutung des «n» als unbestimmte Zahl?...

Adam mit dem Rücken zur Wand(tafel)


11 AUSWEG


Was eine Tochter (Louise Bourgeois) als Schutz und ein Präsident (Freuds Schreber) als göttlich empfinden konnten, wandelt sich beim Knaben (Freuds «kleinem Hans») zur verschlingenden, nachstellenden und kastrierenden Erinnye in Gestalt eines beißenden Pferds, das nach dem Geschlecht des Knaben schnappt. Im Falle des «kleinen Hans» ist der Vater zu schwach, um als Identifikationsfigur gegenüber der Mutter zu dienen; im Falle Adams bleibt er hingegen völlig unsichtbar, inexistent («verworfen»). Die Halluzination nährt sich demnach beständig durch die dominierende Mutter-Gestalt, die den Knaben in ihrem Netz gefangen hält. Im digitalen Zeitalter hängt der Knabe zusätzlich an der metaphorischen Nabelschnur des elektronischen Netzes fest. Und daher ist es die Resignation vor der Mutter bzw. die Unterwerfung unter die Mutter, die am Ende von Denis Villeneuves Film verstört. Selbst die Filmkritiker ahnten, dass das Ende des Films keine «Lösung» im herkömmlichen Sinne anzubieten vermag. Der männliche Doppelgänger als «Feind» ist zwar besiegt, doch mit ihm hat sich auch die Hoffnung auf einen soliden Schutzdamm zwischen symbolischer, imaginärer und realer Ordnung verflüchtigt. Die Erfahrung der «symbolischen Kastration» durch den «Namen-des-Vaters» (ein «nom»/‚Name‘, der zugleich ein «non»/‚Nein‘ ist!), die zugleich eine Schranke für die frei flottierende Libido errichtet und dem Subjekt einen Halt im Symbolischen verschaffen könnte, steht noch aus. Auch die Subjektivierung ‒ die Spaltung des Subjekts ($) ‒ bleibt en suspense. Ob für immer, ist unklar; vorerst übernimmt die verschlingende Mutterfunktion nun die schwangere Ehefrau. Und die Mutter ist’s zufrieden …?

Johann Heinrich Füssli (1741-1825): Der Nachmahr (1790)

Vielleicht bliebe Adam aber immer noch die Möglichkeit der Konsultierung eines kompetenten Psychoanalytikers, der ‒ wie der Freud des «kleinen Hans» ‒ «den Untergang des Ödipuskomplexes» initiiert? Die Anerkennung des «Namens-des-Vaters» würde dann zum Ausgangspunkt eines möglichen neuen Wegs, der einzuschlagen wäre und der von Jacques Lacan mit folgenden Worten umschrieben wird:

«Die Hypothese des Unbewussten ‒ und Freud hebt das besonders hervor ‒ kann sich nur daran festmachen lassen, dass man den Namen-des-Vaters unterstellt. Und den Namen-des-Vaters unterstellen, heißt sicherlich, Gott unterstellen. Der Erfolg der Psychoanalyse erweist sich dadurch, dass man [dann] auf den Namen-des-Vaters ebenso gut verzichten kann. Man kann ebenso gut auf ihn verzichten, wenn [und dass] man sich seiner bedient(Jacques Lacan: Le Séminaire, Livre XXIII, Le sinthome; S.136. ‒ Eigene Übersetzung, HPJ)


Louise Bourgeois: Maman
Wie Lacan für James Joyce nachgewiesen hat (Seminar XXIII, Le sinthome), hatte auch Louise Bourgeois «ebenso gut auf den Namen-des-Vaters verzichten» können, indem sie «sich seiner bedient[e]» und sich selbst einen eigenen (Vater-)Namen als Künstler schuf. Beide konnten demnach den «Erfolg der Psychoanalyse» genießen.

Allein durch die Zeugung eines Kindes und die Übernahme der Elternschaft aber ‒ so darf man Lacans Aussage getrost verstehen ‒ lässt sich schwerlich ein eigener Name-des-Vaters schaffen…

Höchstens ‒‒ die Frage «Was ist ein Vater?» an die nächste Generation weiterreichen?

Louise Bourgeois, 1911-2010


Der Film

Denis Villeneuve: ENEMY. Kanada/Spanien 2013
Produzent M.A. Faura, Niv Fichman, Verleih Capelight Pictures. Drehbuch Javier Gullón nach dem Roman von José Saramago «Der Doppelgänger». Musik Danny Bensi, Saunder Jumaans. Kamera Nicolas Bolduc. Schnitt Matthew Hannam. Bühne Patrice Vermette, Sean Breaugh, Jim Lambie, Kostüme Renée April. Darsteller Jake Gyllenhaal (Adam, Anthony Saint Clair), Melanie Laurent (Mary), Sarah Gadon (Helen), Isabelle Rossellini (die Mutter) u.a.
90 Min.

12 Literatur

Benrais, François: À propos de «la peur des espaces» ou «l’agoraphobie» des Allemands – La névrose émotive, in: ders.: Les phobies chez l’enfant: impasse ou passe?, Toulouse, (érès) 2013
Bitsch, Annette: Das Begehren der Bilder ‒ Blick, Medien und Körper in den Theorien von Lacan und Flusser, in: Rania Gaafar/Martin Schulz (Hg-): Technology and Desire. The Transgressive Art of Moving Images, New York (Intellect Ltd.) 2013
Bourgeois, Louise: Destruction du père. Reconstruction du père. Écrits et entretiens 1923-2000, (engl. 1998), Paris (Lelong) 2000
Chemama, Roland/Vandermersch, Bernard (Hg.): Dictionnaire de la psychanalyse, Paris (Larousse) 2005
Crunelle, Marc: Claustrophobie, agoraphobie et autres malaises liés à l’espace bâti, lavilledessens.net, o.J.
Diekhaus, Christopher: Kritik: Enemy, in: Spielfilm.de
Duguet, Claire: Quelques notes sur le père dans «RSI» et «Le sinthome», Montpellier, 2007
Film vs. Buch: Der Doppelgänger, in: Wikipedia vom 11. 06. 2014
Freud, Sigmund: Über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Der Fall Schreber) (1911), in: ders.: Studien-Ausgabe [StA] Band VII, Frankfurt am Main (Fischer) 1982
Ders.: Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben (Der kleine Hans) (1909), in: ders.: StA Band VIII, Frankfurt am Main (Fischer) 1982
Ders.: Das Unbewusste (1915), in: ders.: StA Band III, Frankfurt am Main (Fischer) 1982
Ders.: Der Untergang des Ödipuskomplexes (1924), in: ders.: StA Band V, Frankfurt am Main (Fischer) 1982
Ders.: Hemmung, Symptom und Angst (1925-26), in: ders.; StA Band VI, Frankfurt am Main (Fischer) 1982
Ders.: Totem und Tabu (1912-13), in: ders.: StA Band IX, Frankfurt am Main (Fischer) 1982
Ders.: Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939), in: ders.: StA Band IX, Frankfurt am Main (Fischer) 1982
Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927), Tübingen (Niemeyer) 11. Aufl., 1967
Lacan, Jacques: Le Séminaire, Livre XI, Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse, 1964, Paris (Seuil) 1973
Ders.: Le Séminaire, Livre XXIII, Le sinthome, 1975-1976, Paris (Seuil) 2005
Lacan, Sibylle: Un père. Puzzle., Paris (Diagraphe) 1994
Li, Anna: Enemy, in: Critiques Cinéma vom 03. 03. 2014
Legrand du Saulle, Henri: Étude clinique sur la peur des espaces (agoraphobie des Allemands), névrose émotive, Paris (Académie des Sciences) 1878
Levi, Primo: Angst vor Spinnen, in: Frankfurter Rundschau vom 23. März 1991, S. ZB5
Melman, Charles: Le trouage borroméen dans la phobie, in ders.: La phobie, Paris (Association freudienne internationale) 1998
Ders.: Sur la phobie, in: Le Bulletin Freudien no 32, Décembre 1998
Ders.: La phobie, Séminaire du 20 mars 2014, https://ephep.com
Michels, André: Angst, Zeit und psychische Struktur, in: RISS Zeitschrift für Psychoanalyse Freud ∙ Lacan, 42/1998-2, Thema: Angst und Phobie, 1998; S.87-116
Moormann, Erich M./ Uittenhoeve, Wilfried (Hg.): Lexikon der antiken Gestalten, Stuttgart (Kröner) 1995
Nemitz, Rolf: Der Name des Vaters (der symbolische Vater) bis 1958, im Netz vom 11. November 2014
Ders.: Lacans Schema von Auge und Blick, 3. August 2014
Perneczky, Nikolaus: Grusel der filmischen Verdoppelung, in: Perlentaucher vom 21. 05. 2014
Postel, Jacques (Hg.): Dictionnaire de psychiatrie et de psychopathologie clinique, Paris (Larousse) 1993
Rank, Otto: Der Doppelgänger – Psychoanalytische Studie, Leipzig-Wien-Zürich (Internationaler Psychoanalytischer Verlag) 1925
Saramago, José: Der Doppelgänger (Enemy), Hamburg (Hoffmann und Campe) 2014
Wessels, Antje: Enemy, in: mehrfilm vom 16. 05. 2014


Frankfurt am Main

Januar 2017


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