Aus
dem Persischen übersetz von:
Sobald
die Sirene ertönt erbleichen Sepidehs Lippen. Weiß, ganz weiß. Ihr
Gesicht auch. Ihre Augen werden irgendwie anders, als ob sie nichts
mehr sieht. Ihre Hände fangen an zu zittern und sie hört nichts
mehr. Sie hört nicht was alle Anderen ihr sagen. Sie wird taub, taub
und stumm. Mama nimmt sie in den Arm und tröstet sie und sagt:
„
Gleich ist alles vorbei meine Tochter. Wenn du bis 20 zählst, wird
alles vorbei sein.“ und streichelt sie.
Sepideh
zählt überhaupt nicht. Mama fängt an selbst zu zählen, so
langsam, dass ich sie überhole. Ich zähle lautlos. Sepideh achtet
nicht auf Mama. Sie achtet auf Nichts. Ich denke, sie denkt an die
Iraker, an die MiGs, an die Luftangriffe, an die Bomben, an die
Spatzen und an die Katze im Hof, die aus Angst flieht.
Großmutter
nimmt ihren Ring vom Finger und sagt:
„ Wasser, Zuckerwasser“.
Sie läuft hektisch hin und her.
Sepideh
mag das Zuckerwasser sehr. Sie geben ihr Zuckerwasser. Ihre Hände
werden ruhiger. Sie rollt sich zusammen, als ob sie beleidigt wäre.
Und wickelt ihren Rockzipfel um den Zeigefinger. So fest, dass ihr
Finger sicherlich schmerzt. Aber sie sagt nichts und dreht den Rock
noch schneller.
Mir
passiert nichts. Nichts. Außer, dass ich pinkeln muss. Ich muss so
schnell wie möglich auf die Toilette. Ich kann nirgends still
stehen. Ich renne auf die Toilette. Meine Mutter zieht mich am Arm
und sagt:
„ Hey du Lausejunge, wo willst du denn hin?“
Ich
stehe unruhig auf meinem Platz. Bis ich sagen kann Pi ……., wird
mir heiß und meine Hose nass. Meine Hose und meine Socken. Mama
schlägt mir auf den Hinterkopf und schreit:
„ Du Taugenichts,
du Bettnässer!“ Und sie fängt an, Saddam, mich, den Krieg, die
Sirenen und die Verstorbenen zu beschimpfen. Ich bleibe an meinem
Platz stehen und versuche keinen Laut von mir zu geben und nicht zu
weinen, damit sie weniger schreit.
Jedes
Mal wenn die Iraker kommen bleiben wir zu Hause. Das heißt wir
bleiben im Haus und gehen nirgendwo hin. Wegen Großmutter. Sie
möchte nirgendwo hingehen. Sie sagt:
„Wo
soll ich denn hin? Wohin? Lasst mich in meinem Haus sterben!“
Mama
wird wütend und sagt:
„Dieser Sturkopf! Sie bringt uns alle
noch um.“ Und fängt an ihr nachzuahmen: „Wo soll hin? Wo soll
ich hin?“
Großmutter
hört alles, doch sie sagt nichts. Sie hört Radio. Großmutter hört
zwar auf das Radio, ihre Aufmerksamkeit aber, liegt bei uns.
Unsere
Straße ist leer. Die meisten Nachbarn sind bereits fort. Sie sind
raus aus der Stadt oder in ferne Städte gereist und kommen nur dann
zurück, wenn sie glauben, dass es keine Luftangriffe mehr gibt oder
wenn sie etwas aus ihrem Haus holen wollen. Etwas, was sie vergessen
haben. Die Hausschlüssel vieler Nachbarn sind bei Großmutter. Zum
Abschied sagen die Nachbarn mit feuchten Augen zu Großmutter:
„Haj
Khanom, verzeih uns. Verzeih!“
Wir
sind auch für ein paar Tage in Onkels Garten gefahren. Großmutter
ist nicht mitgekommen. Nichts konnte sie überzeugen, nicht mal Mamas
betteln. Zum Schluss sind wir selbst gefahren. Viele unserer
Verwandten waren dort. Den ganzen Tag habe ich mit Kindern gespielt.
Es hat sehr viel Spaß gemacht. Im Garten haben wir Graben gebaut und
gespielt. Wir waren zwei Teams. Iraner gegen Iraker. Ich war ein
iranischer Soldat. Wir haben uns hinter den Bäumen versteckt, auf
die Iraker geschossen und sie getötet. Farzad war ein Iraker. Er
wurde gefangen genommen. Wir sind alle auf ihn zugerannt, haben ihn
umzingelt und geschrien: „ Tod dem Saddam!“. Er hat angefangen zu
weinen und hat seine Mutter geholt. Seine Mama war wütend. Sie hat
uns angeschrien und ist weggegangen. „Mir ist das egal, er ist
selber schuld. Er ist ein Taugenichts.„
Ich wünschte, wir
hätten länger bleiben können. Schade, dass es nicht ging. Wegen
Großmutter. Mama sagte die ganze Zeit: „Meine Gedanken sind bei
Großmutter. Ich habe Angst um sie.“
Jetzt
ist es überall ruhig und es sind keine Stimmen mehr zu hören. Außer
Großmutters Radio, das aber auch nicht so laut ist. Sie hat es
leiser gedreht. Ihr Ohr ist an das Radio gedrückt. Ich wünsche
mir, dass die Iraker nicht mehr kommen. Und wenn sie kommen, dann
sollen sie am Tag kommen, sodass man etwas sehen kann und sich besser
verstecken kann. Aber sie kommen immer wann sie wollen. Dann wird
unser Radio immer lauter und es ist so, als ob es aus den ganzen
Häusern und der ganzen Stadt zu hören ist, und wir hören die
Stimme des Mannes, der immer mit gleichem Ton spricht:
„Das
Signal, dass sie gerade hören, ist die Alarmstufe rot oder Gefahr
eines Luftangriffs, sie bedeutet …“
Und
wieder fängt alles von vorne an. Sepideh fängt an zu zittern. Ich
muss wieder pinkeln. Großmutter rennt herum. Mama wird unruhig. Die
Türe und die Fenster fangen an zu beben. Alles fängt an zu beben
und fällt in sich zusammen. Mama und Großmutter streiten. Mama
sagt:
„Khanom, geh nicht raus! Setz dich! Mach deine Zigarette
aus!“ Großmutter wird gekrängt und sagt verärgert:
„Wie
können sie ausgerechnet das winzige Feuer meiner Zigaretten sehen?“
Sie schiebt die Decke vor dem Fenster beiseite und sagt:
„Dunkelheit! Ouf! Wir platzen, lieber Gott! Erlöse uns!“
Jemand
schreit von der Straße aus:
„Mach sie aus!“
Und
alles und überall bebt so sehr, dass dieses furchteinflößende
Geräusch in unsere Ohren ertönt, in unsere Köpfe. Dann setzt sich
Großmutter auf Ihr Sitzmatratze, dort, wo die Nachbarsschlüssel
darunter liegen und sagt:
„Seht, in
welches Elend wir geraten sind! Lasst mich nachschauen, was sie
getroffen haben.“
Und sie redet mit
sich selbst. Sepideh schläft mit blassem Gesicht in Mamas Armen ein.
Jetzt
hat Mama ein Buch geholt und liest ihr eine Geschichte vor. Sepideh
hat ihre Puppe auf ihren Schoß gelegt. Sepidehs Puppe ist am
Schlafen. Sepideh und Mama sitzen am anderen Ende des Zimmers. Dort,
wo die Wand bereits gerissen ist. Dort, wo wir unseren Haftsin
haben. Unser Haftsin hat keine Fische. Ich mache meine Hausaufgaben,
die ich über die Neujahrsferien erledigen muss. Sepideh hat keine
Hausaufgaben, für die Ferien. Sie hat überhaupt keine Hausaufgaben.
Sie geht nicht mehr zur Schule. Mama sagt:
„Nur vorübergehend!“
Und
sie nimmt sie in den Arm. Streichelt ihr über das Haar und küsst
sie. Sepideh macht überhaupt nichts. Immer wenn ich Hausaufgaben
mache, sitzt sie in einer Ecke und beobachtet mich oder sie nimmt
ihre Puppe in den Arm oder schaukelt sie. Manchmal setzt sie sich
auch neben Großmutter und putzt Kräuter. Immer wenn Mama das sieht,
wird sie traurig und fängt an zu nörgeln und lässt nicht zu, dass
Sepideh Großmutter hilft. Ich wünsche mir, dass meine Hausaufgaben
schneller fertig werden. Ich kann auch schneller schreiben. Aber wenn
Mama das sieht, sagt sie:
„Das ist schlampig! Schreib das
nochmal!“
Ich
habe Angst, dass Sepideh nie zur Schule gehen kann und auch nicht
wieder gesund wird. Mama sagt immer:
„Nur vorübergehend!“
Und sie holt sich von Freunden und Familie Tipps für bessere Ärzte.
Am Ende ihres Gebetes sagt Großmutter:
„Du bist barmherzig! Du
bist Weise! Heile, heile!“
Ich
wünsche mir, dass Sepideh spricht, sodass wir ihr Lachen hören
können. Nicht wie jetzt, dass nur ihre Lippen bewegt, ihre Hand
bewegt, ihren Kopf bewegt und ihre Stimme kommt nicht raus. Niemand
versteht was sie will. Ich wünsche mir, dass wir zwei wieder zuhause
schreien und dass wir auf Oma klettern, während sie betet. Dass sie
wieder Farzad ärgert, der gemeine Farzad, der sagt, dass Sepideh nie
wieder besser wird. Er sagt, dass seine Tante, die im Krankenhaus
arbeitet meinte, dass sie nicht wieder geheilt wird. Mama kommen die
Tränen und sie sagt:
„Lieber Gott! Lieber Gott! Warum ich?“
Ich
will kein Soldat mehr werden. Und ein Kampfpilot will ich auch nicht
mehr werden. Sepideh kann auch keine Ärztin werden. Sie hat immer
die Ärztin gespielt. Sie hat ihre Puppen aufgestellt und
gesagt:
“Sie sind krank geworden! Ihnen geht es nicht gut!“
Ich
habe dann Papier und Stift geholt und die Namen der Patienten
aufgeschrieben. Sepideh hat sie untersucht, ihnen Spritze und
Medikamente gegeben. Und wenn sie mit mir schimpfte sagte sie:
„Du
Faulentzer! Aus dir wird nichts! Wenn ich mal Ärztin bin darfst du
nur meinen Patienten Nummern geben!“
Dann habe ich an ihren
langen Haaren gezogen oder habe ihrer Puppe die Hand ausgerissen.
Jetzt spielen wir keine Doktorspiele mehr. Weil Sepideh kann
keine Ärztin mehr sein. Gelegentlich kommt sie und setzt sich zu
mir. Manchmal will sie auch etwas sagen. Sie öffnet ihre Lippen. Sie
bewegt ihre Hand, sie bewegt ihren Kopf und ich verstehe nicht was
sie mir sagen will. Nichts. Dann wirft sie ihre Puppe oder geht und
setzt sich in eine Ecke. Ich sage ihr:
„Sprechen ist doch
leicht. Du musst nur deinen Hals ein wenig zusammenziehen. so wie ich
es mache! Es ist doch nicht schwerer wie Hausaufgaben machen!“
Aber
sie wird nicht wieder lernen zu sprechen. Ich weiß nicht wie kann
sie aushalten, nicht zu sprechen. An ihrer Stelle würde mir
langweilig. Ich habe ihr einmal gesagt, sie soll versuchen zu
sprechen. Ich habe mich ihr gegenüber hingesetzt und ihr gesagt,
dass sie alles was ich sage, wiederholen soll. Ich habe gesagt:
„Sag
Uuu!“ Sie hat nichts gesagt.
Ich habe gesagt:
„Sag
Spiel!“
Sie hat angefangen zu weinen, ist weggerannt und in den
Garten gelaufen.
Sepideh
denkt ihre Puppe ist noch nicht eingeschlafen. Sie wippt ihre Beine
schneller und schneller, dass sie schneller einschläft. Mama liest
leise. Mama hat eine sehr schöne Stimme. Sie kann auch sehr gut
Geschichten vorlesen.
Rotkäppchen ist immer noch im Wald. Sie
ist noch nicht an Großmutters Hütte angekommen und sie kommt auch
nicht auf die Idee, dass derjenige, der in ihrem Bett schläft, nicht
ihre Großmutter ist. Sepideh hat ihre Beine so viel bewegt, dass
sie beinahe den Essig von unserem Haftsin getroffen und diesen
verschüttet hätte. Mama zieht Sepideh zu sich und sagt:
„Warum
bist du so unruhig, Kind? warum bist du so verwirrt?“ und schaut
mich an. Meine Aufmerksamkeit liegt bei meiner Arbeit. Sepideh ist
diejenige, die abgelenkt ist und aus Angst vor dem Wolf beinahe auf
das Haftsin getreten ist.
Die
Bombensirene ertönt. Großmutter dreht das Radio lauter und führt
Selbstgespräche. Es ist so, als ob alles wieder anfängt. Mama
klappt das Buch zu. Sepideh nimmt ihre Puppe fester in den Arm.
Großmutter steht von ihrem Platz auf. Das Radio ist sehr laut. Ich
bin noch nicht mit meinen Hausaufgaben fertig. Wo soll ich mein Heft
hinlegen?
Es
ist so, als ob sie gekommen sind. Heute ist es schon das zweite Mal.
Sepideh drückt sich an die Wand. An die Vorhänge im Zimmer und
zittert. Großmutter geht zur Tür und führt Selbstgespräche. Mama
sagt sie soll nicht hingehen. Aber sie geht. Mama zieht sie mit
Gewalt zurück in das Zimmer. Von draußen sind Geräusche zu hören.
Sie kommen. Sie schlagen zu. Das ganze Zimmer und das ganze Haus
fangen an zu beben. Überall fängt alles an zu beben. Ich denke, sie
haben zugeschlagen. Irgendetwas brennt in der Luft. Im Himmel. Es
zerfällt in tausende Teile. In viele Stücke und überall in unserem
Hof wird es hell. Großmutter jammert. Sie liegt auf dem Fußboden
und stöhnt. Die Tür ist abgerissen und auf ihre Brust gestürzt.
Sepideh ist verschwunden. Ihre Puppe auch. Ich weiß nicht, wo sie
sich versteckt hat. Mama ruft nach ihr. Ein Mädchen fängt an zu
schreien. Mama schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Sie ruft
nach Sepideh und kann die Türe nicht von Großmutter heben, die vor
Schmerz stöhnt. Die Menschen rennen auf die Straße. Die Stimmen
vermischen sich. Es sind Geschrei und Gejammer zu hören. Schritte,
Sirene von Krankenwagen, Schreie und Weinen sind zu hören. Das
Geschrei eines Mädchens ist zu hören, unaufhaltsam. Eine Stimme,
wie die von Sepideh.
Mahoor
und Sepidehs Stimme, Erzählungen, Massumeh Ziai , Bockförlaget
NashreDoosti, 1. Auflage 2013, ISBN 978-91-87195-07-5