Abbas
Kiarostami und Jafar Pahani (sein früherer Assistent) sind die
Speerspitzen des gegenwärtigen iranischen Kinos. Beide bekamen
Schwierigkeiten durch die Autoritäten ihres Landes. Kiarostami hat
sein einigen Jahren, gleichsam in einer zentrifugalen Bewegung,
beschlossen, nur noch im Ausland zu drehen, zunächst in Italien,
dann in Japan. Durch eine eher zentripetale Kraft erfasst, scheint
sich Panahi dagegen entschlossen zu haben, in Iran zu bleiben und
dort weiter zu arbeiten, auch nachdem er zu 6 Jahren Gefängnis (die
er nicht abgesessen hat) und zu einem 20-jährigen Arbeitsverbot
verurteilt worden war. Freilich hat ihn das nicht davon abgehalten,
weiter heimlich drei Langfilme zu drehen: «Ceci n’est pas un film»
‒
Das ist kein Film ‒,
vorgestellt in Cannes 2011, «Closed Curtain», in Frankreich noch
nicht gezeigt, aber in Berlin 2013 auf dem Filmprogramm – beide
Film sind in Innenräumen gedreht ‒,
uns schließlich
«Taxi
Teheran»,
der auf den Straßen
der iranischen Hauptstadt aufgenommen worden ist. Dieser Film hat
auch den Goldenen Bären auf dem Berliner Filmfestival erhalten. Es
gibt wenige Regisseure, die so oft ausgezeichnet worden sind wie
Panahi: Es regnete Gold (Goldene Kamera für «Le Ballon Blanc»
1995, der Goldene Leopard für «Le Miroir» in Locarno 1997, der
Goldene Löwe in Venedig für «Le Cercle» 2000) und Silber
(Silberner Bär für «Hors jeu» in Berlin 2006 und für das
Drehbuch «Closed Curtain» 2013). Mit «Taxi Teheran» bestätigt er
nicht nur seine Stellung als außerordentlicher Regisseur, sondern
auch als Verteidiger des Rechts der Ausdrucksfreiheit.
Yann
Tobin
Jafar
Panahi: «Taxi
Teheran»
Aus dem Französischen von Hans-Peter Jäck
«Taxi
Teheran»
Welch
faszinierender Film! Lustig, unbedingt notwendig und diabolisch
intelligent. Wir können uns vorstellen, dass jede Person, die ihn im
Kinosaal sieht, weiß, dass Jafar Panahi ein großer iranischer
Filmemacher ist, dessen Filme in seinem Land verboten sind, aber auf
allen Filmfestivals der Welt gezeigt werden und dort allgemein mit
Preisen überhäuft und belohnt werden. Doch auch wenn man sich
vorstellt, ein Zuschauer, der die Umstände nicht kennt, verirre sich
einmal in den Saal und würde den Film sehen ‒ auch der würde sich
durch die Erzählung und die von Jafar Panahi gesteuerte Taxifahrt,,
mitreißen lassen! … Und wenn er nur ein wenig filmbegeistert ist,
wird er nicht umhin können, die Art und Weise, wie dieser Film die
Kunst des Kinos und dessen buchstäbliche und hochintelligente
Beziehung zur Wirklichkeit hinterfragt, zu bewundern.
Personen
(und Beifahrer)
Die
Beifahrer bilden eine Art Mikrokosmos, und das umso mehr, als es sich
bei diesem Taxi um ein „Sammeltaxi“ handelt, das bis zu drei
Personen einen Dialog mit dem lakonischen Fahrer/Regisseur zu
inszenieren erlaubt. In der Reihenfolge tauchen folgende Personen
auf: ein Mann als Befürworter der Todesstrafe, eine meinungsoffene
Lehrerin, ein Zwerg, der raubkopierte Videos verkauft, ein
Motorradfahrer, der wegen eines Unfalls in die Notaufnahme des
Krankenhauses gefahren werden muss, und dessen Frau, zwei offenbar
abergläubische Frauen mit einem Goldfischglas, die junge Nichte des
Regisseurs, die er von der Schule abholt und die sich seine
Unterweisung in Sachen Film sehr zu Herzen nimmt, ein alter Nachbar,
der sich von einem Kellner hat übers Ohr hauen lassen, eine
politische Militantin, mit einem Bund Rosen im Arm, die sich um die
Rechte von Gefangenen kümmert, zu deren Besuch sie gerade unterwegs
ist.
Jafar
Panahi als Taxifahrer in «Taxi Teheran», 2015
Diebstahl
(und Betrug)
Der Begriff
des Diebstahls, vor allem von Privateigentum, wird hier in seiner
vollen ideologischen Doppeldeutigkeit vorgeführt; und Panahis Ironie
funktioniert dabei auf wundersame Weise. Der Mitfahrer voller
Gewaltphantasien, der sich für eine Art Scharia gegen
Autoreifendiebe stark macht, muss schließlich eingestehen, dass er
selbst auch nur ein Dieb ist! Zuvor hat er allerdings die mitfahrende
Lehrerin beschuldigt, gegenüber der Moral blind zu sein und viel zu
viel auf ihre Kinder zu hören; seit den ersten Filmen von Kiarostami
bis zu «Le Ballon Blanc» von Panahi aber wissen alle Cinephile,
dass ein Film, der den Kindern das Wort erteilt, das beste Mittel
ist, um die gesellschaftlich kontrollierten Tabus zu kritisieren.
Jede Filmszene wird so zu einem „Diebstahl“ am eigenen Thema. Und
genau das hat die noch grüne Cineastin, Panahis eigene geschwätzige
Nichte, sehr gut begriffen: obgleich sie eigentlich eine Hochzeit
filmen wollte, hat sie wider Willen einen Dieb gefilmt, den sie
danach aber nicht davon überzeugen kann, wegen der Veröffentlichung
ihres Films seine Schuld einzugestehen. Jedes Werk lebt aber nur
davon, wenn es verbreitet wird, und jeder Film, ist, wenn es wirklich
einer ist, zur Veröffentlichung gedacht. Die Filme Panahis werden
weiterhin auf Weltfilmfestspielen ausgezeichnet, und das unter
stillschweigender Duldung der iranischen Machthaber, die die
Veröffentlichung verhindern. Der Chinese Jia Zhangke erzählte
einmal von einer zufälligen Begegnung mit einem Schwarzhändler für
Video-Raubkopien – ähnlich dem in «Taxi Teheran» ‒, und der
ihm einen seiner eigenen Filme zum Kauf angeboten hatte… Durch
solche Robin Hoods des Schwarzhandels wird so der Diebstahl letztlich
zur Rechtfertigung des Films selbst! Die letzte Volte von «Taxi
Teheran» ist, am Schluss zeigen zu können, wie durch die von den
beiden alten Damen vergessene Geldbörse entstandene Versuchung eines
Einbruchs in die Intimität des Taxifahrers (dem gewaltsamen
Aufbrechen des Taxis nämlich) nicht auch noch zum Diebstahl am
Kunstschaffen selbst führt… (Und wir überlassen Ihnen die
Entdeckung dieses Filmschlusses selbst.)
Ein
Ereignis wird „gestohlen“
Fahrzeuge
(und Fahrten)
Der Film
ist eine Reise, der Kinosaal das Transportmittel. Es ließen sich
hier durchaus die möglichen Subgenres dieses Films aufzählen: ein
Film über Flugreisen, über eine Zugreise, über eine Autoreise …
und sogar ein Film über eine Busreise, bei dem einem unwillkürlich
der Gedanke an ein Scheitern an der Kinokasse in den Sinn kommen
könnte, wie das etwa Capra in seinen Lebenserinnerungen schildert
(parallel zu seiner Widerlegung durch «New York-Miami»» von 1934,
der unter dem neuen Titel «Night
Bus» veröffentlich
wurde). Das iranische Autorenkino hat schon oft von der
dramaturgischen Technik der Autofahrt Gebrauch gemacht. Kiarostami
legte dafür eine Reihe von Beispielen vor, darunter auch sein
Hauptwerk «Le Goût de la Cerise» ‒ Der
Geschmack der Kirschen
‒, und er hat daraus sogar eine Art Metapher für die
Filmgeschichte gemacht: Die Fahrt im Auto als Drehbuch, die
Windschutzscheibe als Leinwand, der Fahrer als Regisseur, die
Mitfahrer als Darsteller. Mit «Ten» von Kiarostami glaubte man, das
Dispositiv sei ausgereizt, doch jetzt wurde es wieder erneuert. So
sehr der Protagonist von «Der Geschmack der Kirschen» seinen
Mitfahrern fast Angst machen konnte durch seine rätselhafte und das
Verbot missachtende Haltung, so sehr verhüllt «Taxi Teheran» über
den Umweg seiner vorgeblichen Absicht, „eine Dienstleistung
anzubieten“, die räuberische Natur seines Dispositivs. Der
Taxichauffeur ist als Zeuge seiner Zeit unabhängiger als der
Hausdiener, freier als der Journalist oder der Detektiv: dieses Thema
war für alle Arten von Filmen nützlich: die französischen
Actionfilme (die «Taxi»-Serien), der amerikanischen Kriminalfilm
(Taxi Driver, Night on
Earth…) oder die
Musikkomödien (Ein Tag
in New York). Aber
dank Panahi erreicht jetzt der «Taxi-Film» seinen Höhepunkt! Am
Platz des Taxizählers steht hier die Kamera, und der Kilometerzähler
ist falsch eingestellt. Die Taxifahrt dauert 1 Stunde und 22 Minuten
und erlaubt einem durch die staatlichen Institutionen der strengsten
Beobachtung ausgesetzten Cineasten, seine Waffe, die er symbolisch
auf sich selbst gerichtet hat, umzukehren. Das funktioniert ähnlich
wie eine Überwachungskamera, die dazu benutzt wird, während der
Fahrt verschiedene Aufnahmeeinstellungen zu machen und immer wieder
ihren Blickwinkel zu verschieben: z.B. über das Handy des
Videoverkäufers oder durch den Fotoapparat der Nichte. Wir sehen
hier den begossenen Gärtner als Opfer seines eigenen Scherzes, denn
wie bei Alain Cavalier filmt sich der Filmer selbst: Panahi ist der
inkompetente Chauffeur, unfähig, den Weg zu finden oder den
Fahrpreis anzugeben oder einzufordern, und alles verwandelt sich in
eine brillante Burleske: die improvisierte Rettung der Goldfische
nach einem Bremsmanöver oder der Hinauswurf des
Videoschwarzhändlers, der den Taxifahrer unter dem Vorwand, er habe
ihm vorher schon einmal Raubkopien von Filmen von Woody Allen oder
Nuri Bilge Ceylan beschafft, zum Komplizen machen will. Als
Protagonist seines eigenen Films setzt sich der Regisseur in Szene
als lächelnder Egozentriker, als toleranter Unduldsamer, als ein
softer
Direktor, der sich als unwiderstehlich erweist; so wenn er einem
Filmschüler Ratschläge erteilt, die genau ihr Gegenteil meinen: ein
Filmemacher, dem es an Themen fehlt und der damit aber höchst
freizügig umgeht…
Die
symbolisch umgekehrte Waffe: Jafar Panahi
Gefängnisse
(und Gefangene)
Der letzte
weibliche Fahrgast reicht dann liebenswürdigerweise auch noch die
„Botschaft“ des Films nach: ein gestochenen Monolog nach draußen
wie nach drinnen, frei und gefangen zugleich. Mit «Taxi Teheran»
hat sich der geschlossene Raum von «Ceci n’est pas un film»
erweitert zu einem Abenteuerfilm. Der Filmemacher Panahi findet hier,
in seinem Auto eingeschlossen, zur vollen Ausdrucksfreiheit, zu einer
Sicht jener Goldfische im Glas, die am Ende im Brunnen, aus dem sie
gefischt worden sind, wieder die Freiheit erhalten. Nach ihrer
Bedrohung durch Erstickungstod (als das Glas bei einem abrupten
Bremsmanöver zerbricht), finden sie und Panahi mittels der im Auto
vorhandener Hilfsmittel den Atem wieder (Wasserkanister, Plastiktüte…
kleine Kamera). Panahi betrachtet die Welt durchs Fenster seines
Aquariums auf Rädern, und solange man ihm nicht die Reifen stiehlt,
wird er weiterfahren, weiter zuhören und aus dem Stegreif unter all
den ihn umgebenden Stimmen jene furchtbare Stimme seines ehemaligen
„Verhörbeamten“ herausfiltern. Und es bleibt an uns, daraus zu
lernen, dass es wahrlich nicht leicht ist, Fische zu Sprechen zu
bringen…
Jafar Panahi: Text Teheran,
Iran 2015, 1.22 Min. ‒ Mit der Erklärung Jafar Panahis: „Das
islamische Ministerium gibt den Filmvorspann zur Veröffentlichung
frei. Zu meinem Bedauern hat der Film aber keinen Vorspann. Ich bin
allen dankbar, die mir geholfen haben. Ohne diese Unterstützung
hätte der Film nicht das Licht der Welt erblickt.“
Der
umgekehrte Blick als Herausforderung der Macht
Yannick
Lemaire
Ein runder
Swimming-Pool und Luftballons in «Le Ballon Blanc» (Badkonake
sefid, 1995), ein
goldener Trauring oder eine Pizza in «Sang et Or» (Talaye
sorkh, 2003), ein
Sportplatz in «Hors jeu» (Offside,
2006), ein Titel, eine Kette, eine Treppenflucht und eine
Kreisverkehrsinsel in «Le Cercle» (Dayereh,
2000)… Der Kreis ist sicher eine der Lieblingsfiguren des
Regisseurs Jafar Panahi. Das ist weiter nicht erstaunlich, denn diese
geometrische Figur ist in der Natur weit verbreitet, sie ist, in den
Worten von Georges Poulet («Metamorphosen
des Kreises») eine
„der vollkommensten … und beständigsten“ Figuren in der Welt
überhaupt. Es genügt allein, wenn wir die Aufstellung der Menschen
bei einer Ansammlung betrachten, die etwa einem Ereignis auf der
Straße beiwohnen. Sie gruppieren sich spontan um einen zentralen
Punkt herum. In «Le Ballon Blanc» bilden die herbeieilenden
Teheraner sofort einen Kreis, statt sich auf alle vier Ecken des
Platzes zu verteilen. Die wenigen Erwachsenen, die auf die Fragen der
kleinen Mina («Le Miroir») antworten, umstellen das Kind, um so
leichter miteinander kommunizieren zu können. Und niemanden wird es
schließlich verwundern, dass Fußballfans auf runden Tribünen Platz
nehmen, um dem Fußballspiel in «Hors jeu» beiwohnen zu können.
Der
doppelte Kreis («Hors jeu»)
Dennoch
sollte man nicht bei der einfachen Figur des Kreises stehenbleiben,
denn bei Panahi hat der Kreis auch die Tendenz zur Verdoppelung.
Dabei ist ein Bild sehr bedeutsam – es findet sich zu Beginn des
Films «Hors jeu»: Als ein Soldat eine junge Fußballanhängerin,
unter dem Vorwand, sie wolle das Spiel von einer den Männern
vorbehaltenen Tribüne aus sehen, vorübergehend festnimmt, führt er
sie über eine Treppe, die nicht nur einen Bogen macht, sondern
wieder auf eine andere Treppe stößt, so dass der Betrachter den
Eindruck bekommt, sich auf zwei zusammenhängenden und doch
getrennten Ellipsen zu wandeln. Ähnliche Räume finden sich auch in
anderen Filmen. Dort wird zwar das Motiv nicht so deutlich gezeigt,
doch das Resultat ist dasselbe. Die Wohnhäuser in «Le Ballon Blanc»
umschließen beispielsweise den zentralen Swimming-Pool, um den sich
die Kinder versammeln, um de Goldfischen dabei zuzusehen, wie sie im
Wasser ihre Kreise drehen. Wir haben es hier mit dem Gegensatz von
Zentrum und Umfeld zu tun, der die gesamte geographische Struktur der
Stadt («Sang et Or») bildet und zugleich die langen Wege
verdeutlicht, die Hussein, der Pizzalieferant, zurücklegen muss. In
«Le Miroir» (Ayneh,
1997) bezeichnet uns der Filmemacher die Höhepunkte wiederum auf
ganz verschiedene Weise: durch die Kreisfahrten unzähliger Fahrzeuge
vor der Kamera und durch die Handhabung des Mikrofons, mit dem die
junge Schauspielerin agiert: sobald der Fahrer sein Taxi verlässt,
um eine Gasflasche zu deponieren, hört man keinen Ton mehr, weil er
sich außerhalb der „Interessenssphäre“ von Mira bewegt und in
einen zweiten Kreis mit geringerer Wichtigkeit eintritt. Man merkt
unwillkürlich, dass dieser Doppel-(Dreier-, Vierer-)Kreis keineswegs
bedeutungslos, sondern nur Mittel ist, um die gesamte iranische
Gesellschaft darzustellen, d.h. um die politische Wirklichkeit
innerhalb dieser Gesellschaft zu beschreiben. Indem Jafar Panahi
diese beiden konzentrischen Kreise zeichnet, folgt er dem Beispiel
der alten Griechen, die auch schon auf die Ähnlichkeit zwischen
physischem Ort und Ort des Bürgers der
polis hingewiesen
haben;
er zeichnet die Institutionen seines Landes zusammen mit der
Separierung nach, die durch die Machthaber den Männern und Frauen,
Eltern und Kindern, Armen und Reichen, Teheraner Stadtbürgern und
Provinzbewohnern aufgezwungen wird. Doch er gibt sich keineswegs nur
mit dieser Beschreibung zufrieden: seine Wahl ist dazu ausersehen,
die Stadt neu zu ordnen, den Ort der Kreise umzukehren, um auf die
[sozial] Schwächsten aufmerksam zu machen. Worauf werden wir
hingewiesen? Eher auf das kleine Mädchen als ihrem Vater, auf den
unglücklichen Hussein lieber als auf seine reichen Kunden, auf die
weiblichen Fußballfans lieber als auf die männlichen, auf die
Ehefrauen lieber als auf die Ehemänner, auf die Frauen lieber als
auf die Männer. Obgleich diese beiden Welten nahe beieinander
liegen, gehören sie dennoch verschiedenen „Macht- und
Einflusskreisen“ an; der Filmemacher will lieber diejenigen
herausheben, die sich für gewöhnlich nur in der Nähe des Zentrums
befinden. Über die gesamte Dauer von «Le Ballon Blanc» ist der
Vater im Bade- und Schlafzimmer eingeschlossen; die Reichen verlassen
niemals ihre luxuriösen Apartments am Stadtrand («Sang et Or»);
die Fans von Tim Melli ‒ der iranischen Fußballnationalelf ‒
harren hinter schweren Gittern des Stadions aus oder werden in die
öffentlichen Toiletten abgedrängt («Hors jeu») … Die Ehemänner
in «Le Cercle» bleiben aus dem Universum der Frauen ausgeschlossen,
doch beide sind wie Kettenglieder miteinander verbunden. Die Ordnung
der Kreise umkehren… die Welt umstülpen wie einen Handschuh… Die
Kunst Panahis ist schon im urbanen Schriftzug, in der Umkehrung der
Form eingeschrieben. Und das umso mehr als er seine Personen
verdoppelt.
Krankenschwester
und Mutter (Le cercle)
Die
Figur des Double
Und in der
Tat schreiben sich Mann und Frau auf ihre Art in dieses Gesetz
des Kreises ein, aber
nicht dadurch dass sich ihre Figur von Film zu Film wiederholt oder
verdoppelt, sondern weil sie so oft wie möglich einem Gegentypus
oder einem alter ego
begegnen. Junge oder Mädchen? Diese Frage lässt die Soldaten in
«Hors jeu» nicht los, besonders den Offizier, dem seine
Untergebenen eine junge Frau, die mit Männerhose und Männerhemd
bekleidet ist, vorführen. Wenig später stellt er kategorisch fest,
dass es nicht gleich sei, ob Junge oder Mädchen. Aber dennoch…
Verhüllt denn eine der weiblichen Fußballanhängerinnen ihr Gesicht
nicht mit einem Plakat eines der Spieler der Nationalelf, um
unerkannt auf die Toilette gehen zu können? Panahi wiederum
arrangiert die Ankunft der weiblichen Gefangenen an ihrem Haftplatz
wie ein gekonntes langes Crescendo. Die Erstangekommenen haben noch
feine Gesichtszüge, so dass sich niemand, trotz ihrer Hosen oder gar
Helmen, über ihr Geschlecht zu täuschen vermag; die Späteren
erregen mehr und mehr Verwirrung: die eine hat einen Gang oder eine
Haartracht, dass man sie für einen Mann halten könnte, und die
andere oder die letzte trägt ihre Uniform so gekonnt, dass der
Wachhabende sich über ihre Geschlechtszugehörigkeit täuschen muss:
„Das ist ein Mädchen, Mann!“, glaubt derjenige, der die Haft
veranlasst hat, präzisieren zu müssen!
Eine
Doppelvariante dieser Darstellung: die Krankenschwester und die
Mutter in «Le Cercle»; obgleich beide durch eine Eisentür oder
durch die Rückenlehne einer metallenen Bank voneinander getrennt
sind, erdulden beide dasselbe Unglück, nämlich in einer Männerwelt
eine Frau zu sein.
Die
Figur des Doppel (Le cercle)
Oder ein
anderes Paar: Hussein und Purang in «Sang et Or»: Trotz des
physischen und sozialen Unterschieds, den nichts und niemand
abzustreiten vermag, ist alles so arrangiert, dass man sie bis ins
Detail miteinander verwechselt. „Mein Kopf explodiert“, sagt der
eine, wenn sich der Kopf des anderen langsam dreht; die eine hält
die Zigarettenmarke für zu stark, während der andere sich damit
abfindet und diese Meinung als seine eigene übernimmt. Und noch
bedeutsamer: wie in einem unheimlichen Spiegeleffekt überfallen
beide dieselbe Einsamkeit und dieselben Schwierigkeiten in ihren
affektiven Gefühlsregungen. Der Spiegel: wir zitieren diesen
Ausdruck nicht zufällig. Diesen Titel trägt jenes Werk, das das
Problem des Doubles bis zum Äußersten treibt. Ein Double der
Wirklichkeit und der Fiktion. Ein Double der Schauspielerin und ihrer
Rolle. Schon in «Sang et Or» begegnen uns die beiden
Schauspielerinnen mit ihren wahren Namen, doch mit Mina in «Le
Miroir» erreicht das Problem ein neues Ausmaß: Umsonst will sie
sich ihrer falschen Aufmachung entledigen und zu ihrem normalen Leben
zurückkehren; sie schafft es aber nicht, den Film, in dem sie
spielt, zu beenden. Der Unterschied zwischen sich und dem Mädchen,
das sie in der Geschichte spielt, ist so minimal (ein Paar Schuhe,
ein Armband), dass er sie auf ihrem doppelten Wege stets verfolgt.
Aber selbst wenn sie zwei nicht miteinander vergleichbaren Welten –
der realen und der Filmwelt ‒ angehören, so bleiben beide doch
immer eng miteinander verbunden.
Hölle
und Paradies
Das heißt:
wir haben es zu tun mit einer Tragödie des Kreises und mit einer
zyklischen Tragödie. Das Schicksal einer Wiederholung; eine Hölle,
deren Kreisbahn durch die drei Religionen des Buchs vorgegeben ist.
So ist niemand weiter erstaunt, wenn er feststellen muss, dass,
nachdem einmal die jungen weiblichen Fußballfans ihren Gang auf der
Treppe, der zum vorläufigen Gefängnis führt, begonnen haben, es
zur Trauer über ihre Freiheit kommen muss. Keine Ausflüchte, kein
Bitten wird die Wärter erweichen können; die Mädchen werden den
Sittenwächtern übergeben werden, und einige werden gerichtlich
verurteilt werden. Ebenso verwundert es niemanden, dass schon kurz
nach dem Schwarzfilmbeginn von «Le Cercle» die Besucherin die Frage
an die Geburtshelferin wiederholt („Was ist es?“): die Geburt
einer Tochter erweist sich in einer patriarchalen Gesellschaft als
Katastrophe, als ein Absturz in die tiefsten Abgünde der Dunkelheit.
Und was soll man zu Husseins Lage in «Sang et Or» sagen? Er kommt
immer wieder an den Ort seiner Demütigung zurück (das
Juweliergeschäft), so als ob sein Schicksal und sein Tod dort
eingeschrieben seien. Das Kaufhaus ist für ihn nicht der Ort der
Hoffnung auf ein besseres Leben, sondern umgekehrt: die Versicherung
einer dauerhaften Verdammung, weil er die schlimmste aller Sünden
begeht: seinen Nächsten und daraufhin sich selbst zu töten. Die
Kreisbewegung wird noch komplexer: sie wird zum Labyrinth, trotz
dieser Stadt und ihrer wimmelnden Bewohnern und bevölkerten
Gässchen, Straßen und Alleen, in denen alle, von der kleinen Mina
über Hussein bis hin zu Narghess, dazu verurteilt sind, sich zu
verlieren. Es gibt unzählige Szenen, in denen die Menschen nach dem
Weg fragen, wieder auf denselben Weg verfallen, sich über ihr Ziel
in Unruhe versetzen lassen und den Eindruck vermitteln, nicht zu
wissen, wohin sie gehen sollen, auf welchen Richtungen sich ihr Hin
und Her bewegen soll…; kurz: sie drehen sich im Kreise! Überall
lauert das Gefangensein, die Klaustrophobie, oder ‒ noch schlimmer:
der Infarkt! Von daher ist zu verstehen, dass Hussein (in «Sang et
Or») das Fleisch vom Balkon herunterlässt. Deshalb der Kommentar
des Boten über das Geld, das zu „zirkulieren“ habe. Und deshalb
auch die Szene, in der ihm ein Polizist gebietet, sein Mofa „bis
zum St. Nimmerleinstag“ zu parken…
Doch auch
hier geht es nicht um Unilinearität. Alles ist verdoppelt. Schon in
der mündlichen Überlieferung [in den Hadithen] ist die Rede von
Mohammeds nächtlicher Kreisfahrt „in der Dunkelheit“, zu den
sieben brennenden Welten, die auf einem Stein ruhen, der wiederum auf
einem Fisch gründet, dessen Maul und Schwanz miteinander verbunden
sind; genau hier setzt die Assoziation mit dem Kreis an, denn damit
wird auf die kreisförmigen Wälle verwiesen, die zu Allah und bis
ins Paradies reichen.
Dieses Wort taucht unablässig im Munde von Narghess auf: „Schau,
wie schön es ist, man könnte sagen, schön wie das Paradies!“,
murmelt sie ihrem Freund zu, als sie die Landschaft ihrer Kindheit
beim Anblick eines Bildes in der Verkaufsbude beschreibt. „Dort
finden alle Probleme ihre Lösung“, fügt sie hinzu. Und in der Tat
wird sie dort (zumindest glaubt sie es) ihre Ruhe finden, die sie
verloren hat, seitdem sie ins Gefängnis geworfen worden war, weil
sie außerhalb der Heiratsbande die Liebe gesucht hat.
Mina
schaut uns an (Le Miroir)
Individuum
Dieser
Paradigmenwechsel, der aus der Hölle den Garten des Paradieses und
aus einem Ort der Dunkelheit einen Ort voller Licht macht, gilt auch
für die Männer. Nachdem zum Beispiel das kleine Mädchen aus «Le
Ballon Blanc» zum Weg gefunden hat, der sie zum Fischhändler führt,
wird sie nicht mehr dieselbe sein; sie hat eine Erfahrung gemacht,
die sie bisher nicht kannte. Sie hat nun erkannt, wie gefährlich es
ist, auf bestimmten Plätzen ‒ vor allem die mit den
Schlangenbeschwörern ‒ zu verweilen, auf denen sich die Gaffer
versammeln. Sie hat die Solidarität anstelle des Egoismus
kennengelernt; sie hat erkannt, dass es notwendig ist, auf andere zu
vertrauen, um ihre eigenen Ziele erreichen zu können. Weil sich die
Bedingungen geändert haben, ist ihr Weg ‒ wie auch der von Mina
(in «Le Miroir») ‒ zur Erweiterung ihres Blicks auf eine neue
Erfahrung geworden, zu einem herausragenden Moment ihrer
Individuierung.
Natürlich kannten die beiden Mädchen ihren Weg von der Wohnung aus
schon vorher, weil sie ihn zusammen mit der Mutter oder anderen
Erwachsenen schon einmal gemacht haben. Doch damals sind sie ihn
gegangen, ohne auf die Umgebung zu achten. Ab nun aber müssen sie
auf ihn achten, d.h. sie müssen sich für andere Personen als sich
selbst interessieren. So muss Mina im Gesicht des Chauffeurs lesen,
um den richtigen Bus zu nehmen und um nach dem kleinsten Zeichen von
Dankbarkeit zu haschen, aus dem sich schließen lässt, dass sie auf
ihrem richtigen Wege ist. Und wir sollten keineswegs glauben, dass
das nur Kino
sei! Diese Lehre gilt für alle! Befindet sich denn die junge
Schauspielerin nicht auch in der Situation ihrer Figur, nachdem sie
den Film hinter sich gelassen hat und Unabhängigkeit vom Filmteam
erlangt hat? Ich glaube, sie muss jetzt ihren eigenen Weg finden, um
die Straßen und Alleen zu durchqueren. Im Gegensatz zu der
Schülerin, deren Rolle sie spielt, muss sie mit ihren Mitmenschen
rechnen, um von ihnen die Zeichen zu bekommen, dass sie auf ihrem
Lebensweg weiter vorankommt und endlich erwachsen wird… oder
politisch korrekter: um ihren eigenen Herd zu finden.
Jungen
oder Mädchen? (Hors jeu)
Der
umgekehrte Blick
Es ist
natürlich nach allem, was wir bisher beschrieben haben, an ein Auge
zu denken. Denn tatsächlich beschreibt Panahi, wenn er einen
kreisförmigen Raum darstellt, das Rund der Pupille; macht er so aus
seinem Kino das Kino- oder das Kamera-Auge Vertovs? Ja, und zwar ab
jenem Moment, an dem man seinen Film als eine Erforschung des Iran
ansieht, die uns das enthüllt, was dem simplen menschlichen Blick
entgeht, und das heißt vor allem: die Lage der Frauen. Ja, vor allem
unter der Bedingung, dass wir nicht unseren eigenen Platz in diesem
Dispositiv vergessen. Während sich beim russischen Regisseur der
Filmemacher und also auch der Zuschauer außerhalb des Gefilmten
befinden, um es besser beurteilen zu können, befinden wir uns bei
Panahi am Fuße der Treppenschnecke, im Zentrum der Szene. Als
Blickender und Erblickter. Die Kreisbahn des travellings
am Ende von «Le Cercle» drückt nichts anderes aus: die Kamera
steht inmitten der Gefängniszelle und beginnt langsam eine nach der
anderen der Frauen zu filmen, die an der Wand lehnen. Genau mit
dieser Kamerabewegung hat schon «Le Miroir» begonnen: Der Regisseur
bewegt sich auf einem Kreuzweg und zeichnet einen Kreis, der vom
Eingangstor ausgeht und letztlich wieder dahin zurückkommt, und zwar
nicht ohne dazwischen die drei Gänge zu erfassen, die überwacht
werden durch eine Schülergruppe beobachtetes Duo von
Umzugsbeschäftigten und zweier Mütter. Einen Moment später wird
das kleine Schulmädchen dieselbe Bahn durchlaufen. Und in einer
bemerkenswerten Szene wir sie am Ende innehalten und den Blick auf
uns richten und direkt in die Kamera sprechen: wir bekommen jetzt
unsererseits den Eindruck, dass wir observiert und gefangengesetzt
worden sind!
Das hat
eine ebenso politische wie moralische Wirkung: dieses Auge nimmt uns
gefangen. Nicht nur Mina steht hier im Zentrum des Prozesses der
Individuierung, sondern (allgemein) all jene, die von der
Gesellschaft ausgegrenzt werden! Und wir können nun nicht mehr so
tun, als ob uns das nichts anginge. Seit Jafar Panahi wird das Kino
zu einem Ort, an dem sich das
ich und das wir
begegnen, sich zusammen verändern und zusammen die Welt verändern.
Denn jetzt beginnen die Diskussionen, blühen die Kritikern auf,
fallen die Grenzen: die Revolution der Gedanken und der
Geisteshaltungen machen sich auf den Weg. Lässt sich ermessen,
welche Macht eine solche Herausforderung mit sich bringen wird?
Eine
Stellungnahme von Jafar Panahi zu «Taxi Teheran»
Jafar
Panahi in Paris 2001
Herr
Panahi, herzlichen Glückwunsch für den Goldenen Bären, den Sie
soeben bekommen haben! Was halten Sie davon?
Jafar
Panahi: Natürlich freue ich mich darüber, für mich und für das
gesamte iranische Kino.
Kennen
Sie den Brief, den Herr Ayatollah Ayoubi an den Leiter des Berliner
Festivals geschrieben hat?
Ja, ich
habe ihn in den Zeitungen gelesen.
Was
denken Sie darüber?
Es ist ein
höflicher Brief.
Sonst
kein Kommentar?
Nach der
Lektüre habe ich mir gesagt: „Das war’s dann!“ Da standen
schöne Sätze, aber es sind alles nur Worte. Sie hätten einen Wert,
wenn man sie praktisch umsetzen würde.
Herr
Ayoubi beschuldigt den Leiter des Berliner Filmfestivals, Politik zu
betreiben, Was hätte der „praktisch“ machen können?
Genau da
beginnen die Probleme! Seit über zwanzig Jahren hören wir in
unserem Land Schrittgeräusche von Politikern auf dem Gebiet der
Kunst, vor allem für das Kino. „Sie“ versuchen, Politik und Film
miteinander zu vermischen. Aber ausgerechnet Herr Ayoubi
gibt anderen für die Trennung von Politik und Film Ratschläge!
Warum richtet er sich nicht selber danach? Er errichtet zwischen
Kunst und Politik einer Maurer, die länger ist als die Chinesische
Mauer! Wissen Sie, wie viele unserer Filme an dieser Mauer
gescheitert sind und nie den Weg in die Vorführsäle gefunden haben?
Die ganze Energie und Kraft der Filmkünstler wurde einfach im
Schrank weggepackt! Am Schluss des Briefes schreibt Herr Ayoubi:
„Kultur und Film sollen die Mauern einreißen.“ Das ist ein
schöner Satz, aber in Wirklichkeit steht die Mauer immer noch
unerschütterlich. Ich glaube, Herr Ayoubi muss zuerst einmal die
Mauern, die er und seine Vorgänger errichtet haben, abbauen, dann
erst kann er Anderen Ratschläge geben.
Gesetzt
der Fall, er steht selbst unter Druck: was könnte er tun?
Ach Gott!
Dieser vorgebliche Druck seitens der Machthaber steht immer im Raum,
und das wird auch so bleiben. Die Männer an der Macht beschuldigen
uns immer, Filme für Festivals und für das Publikum im Ausland zu
machen. Sie verstecken sich hinter einer Mauer von Politik, doch
vergessen zu sagen, dass selbst unsere iranischen Filme keine
Aufführgenehmigung für den Iran erhalten. Wenn man sie auf allen
Kanälen sehen könnte, dann würde die Angst, dass man sie außerhalb
des Iran sehen könnte, verschwinden. Das würde dann dazu führen,
dass man das iranische Kino im Ausland endlich besser kennenlernen
würde! Dennoch ist die Präsentation von «Taxi Teheran» in Berlin
eine gute Gelegenheit, ihn danach auch in Teheran zeigen zu dürfen.
Nach der Veröffentlichung des Briefs des Vize-Ministers habe ich
Herrn Ayoubi vorgeschlagen, ihn auf dem Festival Fajr in Teheran zu
zeigen, und habe hinzugefügt, dass ich dann meinen Film aus dem
Berliner Wettbewerb zurückziehen würde. Ich glaube nämlich, dass
kein Preis die Freude, meine Filme den Mitbürgern meines Landes
zeigen zu dürfen, aufwiegt.
Sie
wollen also sagen, dass Sie wirklich Ihren Film aus dem Berliner
Wettbewerb genommen hätten?
Ja. Alle
iranischen Filmemacher hätten gerne, dass ihre Filme zuerst in Iran
laufen, doch die politische Mauer lässt das nicht zu.
Und das
ist alles?
Ja, genau!
Obwohl ich niemand bin, der einem Verantwortlichen der Regierung
Ratschläge erteilen will, habe ich Herrn Ayoubi nach der
Veröffentlichung seines Briefes sofort über einen befreundeten
Regisseur meine Botschaft geschickt.
Und die
Reaktion?
Die Antwort
war, dass er darüber mit seinen Ratgebern sprechen wolle. Doch bis
zum letzten Tag des Filmfestivals Fajr habe ich keine Antwort
erhalten. Wenn Sie wollen, können Sie ihn ja danach fragen!
Jafar
Panahi, in: Positif,
Revue mensuelle de cinéma,
Nr. 650, April 2015; S.6-13. ‒
Aus dem
Französischen von Hans-Peter Jäck.
Auszüge
aus dem Brief von Ayatollah Ayoubi an den
Leiter
der Berlinale Dieter Kosslick
Das
Filmfestival in Berlin „ist
für Filmfreunde in Iran ein vertrauter Begriff geworden: zu einem
Ort, an dem man Filme zeigt, Dialoge initiiert, Dialoge, die die
moderne Welt unbedingt nötig hat […] … ein Dialog, der ‒ würde
es ihn heute schon geben ‒ uns alle davor bewahren würde, von den
furchtbaren Wogen des Missverständnisses verschlungen zu werden. […]
Ich höre, wie viele andere Filmliebhaber, das ominöse Geräusch
politischer Fußstapfen auf dem Berliner Festival. Ich würde mir,
wie Sie auch, wünschen, dass Berlin eine Zuflucht für Kultur und
Kunst bleibt, doch es scheint mir, dass da jemand die Politik der
Kunst vorzieht. Das Geräusch von Politik ist zu hören, und die
Steine, die Sie Zug um Zug aufschichten, wird schnell eine neue
Berliner Mauer um Ihr Festival bauen; eine Mauer, die höher werden
könnte als die Große Chinesische Mauer. Und diese Politik wird dann
zur Spaltung führen, die wiederum zur Wiedererrichtung der Berliner
Mauer führt, während doch Kultur und Kino zum Niederreißen von
Mauern und Barrieren dienen sollte.“
Ali
Naderzad von «Iranian
Film Daily», das hier
Ayatollah Ayoubi zitiert, fährt danach fort und kommentiert: „Kann
hier jemand, bitte, die Jobbeschreibung dieses Mannes herauslesen?
Irgendjemand? Irgendjemand? Vielleicht Bueller? Für den obersten
Leiter der iranischen Film-Institution ist die Tatsache, ein
«J’accuse» zu einem Augenblick, an dem gerade das größte
iranische Filmfestival Fajr stattfindet, an einen Widerpart in einem
anderen Land zu richten, ziemlich anmaßend. Man muss sich fragen,
welche Arbeit Herr Ayoubi in seiner Funktion als höchster
Verantwortlicher für Film [in Iran] gerade macht, die ihm Zeit und
Muße lässt, Herrn Kosslick eine Lektion in Geschichte und
Menschenrechte erteilen zu wollen.
Panahis
Film «Taxi» wird seine Premiere […] in Berlin haben. Der
Filmemacher darf auf Beschluss eines iranischen Gerichts zwanzig
Jahre lang keine Filme mehr drehen, weil er nach der Wahl 2009 eine
Dokumentation über die damals ausgebrochenen Unruhen machen wollte.
Dieses Urteil scheint aber für den Filmemacher geradezu zu einem
Glücksfall für die Filme zu werden, die er seitdem gedreht hat. Die
Festivals nehmen sie weiterhin in ihr Programm genau wegen des hohen
Grads an Aufmerksamkeit, die die iranischen Machthaber Panahi widmen.
Ist das eine Win-Win-Situation
für Panahi? Ich behaupte: ja, sehr wahrscheinlich! Die Reaktion
aller Festival-Leiter erfolgt offensichtlich immer noch zu recht.
Doch auch wenn die Lage, in der sich Panahi befindet, zu seinem
Vorteil dient, muss dieser Filmemacher weiter Filme machen, selbst
wenn sich das überall schlecht fürs Geschäft erweist, selbst wenn
ihm eine Regierung weiter Steine in den Weg legt. Und auch weil
Panahi geradezu lebensstrotzende und packende Filme macht, die
Zeugnis ablegen von einer Menschlichkeit und einer Originalität, die
man bei seinen Mitstreitern nicht allzu oft zu sehen bekommt. […]
[Der Leiter
der Berlinale] Dieter Kosslick bemerkt dazu: «Jafar
hat sein zwanzigjähriges Verbot nie akzeptiert und versucht, seine
Arbeit weiter zu machen, weil er nicht leben kann, ohne Filme zu
drehen, und zufällig haben wir hier einen Film ‒ vielleicht per
Taxi?... ‒ von ihm bekommen; Jafar ist [jetzt] in einer besseren
Stimmung als je zuvor, denn er ist jetzt Taxifahrer für seinen Film,
und wahrlich ein komödiantischer Taxifahrer mit großem Sinn für
Humor; und das ist gut so, denn vor drei Jahren steckte er noch in
einer Depression.»“
Aus:
Ali Naderzad: Hoyatollah
Ayoubi, Iran’s film authority, gives BERLINALE head honcho an ear
boxing (of sorts), in:
Iranian
Film Daily
vom 8. Februar 2015. ‒
Aus
dem Englischen von Hans-Peter Jäck.
Goldener
Berliner Bär an Jafar Panahi:
Die
junge Filmschauspielerin Mahnaz Afshar mit Jurypräsident Darren
Aronofsky,
Berlinale
2015