پنجشنبه
:Hans-Peter Jäck


Über die Freiheit der Gazelle im Zeitalter der Biopolitik
Zum Film von Abderrahmane Sissako: «Timbuktu», 2014
 
 

“Viel Ungeheures ist, doch nichts
so Ungeheures wie der Mensch.“
Sophokles, Antigone 

“In every being there is a complexity,
there is the good and the bad.
A jihadist is someone we can see ourselves in."
Abderrahmane Sissako
  
„Der tolle Mensch sprang mitten unter sie
und durchbohrte sie mit seinen Blicken:
«Wohin ist Gott?», rief er,
«Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet
ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder!».“
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 1882

1995 hat der italienische Philosoph Giorgio Agamben den ersten Band seiner Reihe «Homo sacer - ­ Die souveräne Macht und das nackte Leben» herausgebracht (er erschien 2002 in Deutsch im Suhrkamp-Verlag); dort versucht er aufzuweisen, dass die herkömmliche Unterscheidung von „nacktem [bloßem] Leben in seiner Namenlosigkeit“ (zōḗ) und „qualifiziertem Leben eines Bürgers“ (bíos) (a.a.O.; S.132), zwei Weisen, unter denen seit der griechischen Antike das menschliche Leben betrachtet wurde, spätestens und vor allem durch die Konzentrationslager der Nationalsozialisten obsolet geworden ist. Man könnte sogar sagen: die gesamte Welt nach 1945 ist auf dem Weg, überall und immer größere solche Lager zu schaffen, ja sich teilweise in solch ein Lager selbst zu verwandeln: „Die Lager gehen … nicht aus dem gewöhnlichem Recht hervor (…), sondern aus dem Ausnahmezustand und dem Kriegsrecht.“ (S.175) „Das Lager ist [genau wie der moderne Krieg, hpj] ein Hybrid von Recht und Faktum, in dem die beiden Glieder ununterscheidbar geworden sind.“ (S.179) Das eindringlichste Beispiel sind für Agamben die Flüchtlinge und ihr zwangsverordneter exterritorialer Status: sie werden ‚per Gesetz‘ sogar von den Menschenrechten ausgeschlossen (vgl. die sog. „zones d‘attente“ (‚Warte‘-Zonen) in allen großen Welt-Flughäfen, auch in Frankfurt). So könnte etwa die seitens der EU offiziell verkündete Einstellung lebensrettender Maßnahmen für boat-people im Mittelmeer als ein Vorform dessen angesehen werden, was Agamben schon für das nationalsozialistische Euthanasie-Programm konstatiert hat: es „markiert den Punkt, an dem die Biopolitik zwangsläufig in Thanatopolitik umkippt“. (S.151) Die Identifizierung von zōḗ und bíos bedeutet nichts mehr und nichts weniger, als dass hinfort keine Unterscheidung zwischen Faktum und Recht (des Lebens) gemacht wird: „Darum ist das Lager das Paradigma des politischen Raumes, und zwar genau in dem Punkt, wo die Politik zur Biopolitik wird (…). Vor den in den Lagern begangenen Greueltaten ist die Frage, wie es möglich gewesen ist, solch entsetzliche Verbrechen an menschlichen Wesen zu begehen, heuchlerisch; ehrlicher und vor allem nützlicher wäre es, gewissenhaft zu untersuchen, durch welche juridische Prozeduren und [durch] welche politischen Dispositive menschliche Wesen so vollständig ihrer Rechte und Eigenschaften haben beraubt werden können, bis es keine Handlung mehr gab, die an ihnen zu vollziehen noch als Verbrechen erschienen wäre (an diesem Punkt war in der Tat alles möglich).“ (G. Agamben, Homo sacer, Band 1; S.180).

Was vor 20 Jahren noch von vielen als absurde spinnerte Behauptung belächelt und abgetan wurde, ist demnach inzwischen weltweit zu konstatieren – und nicht nur im Zeigen auf den sog. Islamismus oder Salafismus! ‒ Wissen wir doch seit Gustav Heinemann, dem früheren Bundespräsidenten, dass bei jedem Zeigen mit dem Zeigfinger, drei weitere Finger auf uns selbst weisen.

Das Beispiel Ukraine ist nur eines von vielen weiteren Beispielen, wie auch im scheinbar freien Europa nacktes (d.h. brutales) Faktum und Recht gleichgesetzt wird ‒ und sei es im Namen von irgendwelchem „europäischen oder Welt-Frieden“, der schon 1989 bloß die Illusion vieler Politikern, Literaten, Philosophen und Journalisten u.a. gewesen war. In Europa und im Westen insgesamt glaubte man sich damals endlich „frei“ und „souverän“, sein eigenes Geschick selbst bestimmen zu können! (Und auch heute dröhnen uns die Apostel noch von ihrer „Freiheit“ die Ohren und Augen zu.) Doch dieser fromme Wunsch enthüllt sich nun vor unseren eigenen Augen und Ohren als die Illusion, die er immer schon war. Aber noch mehr: die Kräfte von damals setzen, unter maßgeblicher Mithilfe einer jungen Generation (die die Proteste gegen die atomare Aufrüstung der NATO („NATO-Doppelbeschluss“) unter einem Bundeskanzler Helmut Schmidt und Außenminister Hans-Dietrich Genscher nicht einmal mehr aus google kennt) weiterhin und verstärkt alles daran, um ihre Illusion als politische Grundlage des Denkens für alle zu verordnen: es ist Krieg, aber man spricht beschönigend von „Konflikt(en)“ und von der „Bedrohung“ des Friedens! (Über die Abgründe solch echten Verdrängens im Freud‘schen Sinne wäre noch viel zu sagen; eines bleibt gewiss: das Verdrängte kehrt immer im Realen wieder!)

Aufs dringendste empfehle ich daher Abderrahmane Sissakos Film «Timbuktu»: dieser Film ist eben nicht nur, wie das in den meisten Besprechungen, vor allem in der deutschen Presse, herausgestellt wird, ein Film über irgendwelche weitabgelegene, fremde Länder und abstrusen Religionsfundamentalisten, die sich zugleich auch als weltliche Kadis gerieren (Scharia), sondern in Form von fast unglaublich märchenhaften Bildern die Verdeutlichung der subversiven Kritik jenes Heuchlertums, von dem Agamben spricht. Er ist der Versuch der Bebilderung jener Ankündigung von Slavoj Žižek, die einmal unsere eigene – westlich-amerikanische ‒ Ankunft „in der Wüste des Realen“ vorhersagte. Darüber hinaus macht der Film aber auch auf etwas Weiteres aufmerksam: die Malträtierten und Mord, Folter, Neid und unermesslicher Dummheit ausgesetzten Menschen blicken nur ihren eigenen Mördern und Peinigern ins Gesicht ‒ sie blicken (genau wie der Film selbst!) nicht (mehr) nach ‚draußen‘, etwa auf den Westen, nach Europa, auf die UNO, die Menschen- und Bürgerrechte oder all die unzähligen sog. „humanitären“ Organisationen für Friede, Freundschaft und, und, und…: „Die «flehenden Augen» des ruandischen Kindes, mit dessen Fotographien man Geld sammeln möchte, das man aber «jetzt schwerlich noch lebend antreffen wird», sind die vielleicht prägnanteste Chiffre des nackten Lebens in unserer Zeit [Hvhbg. hpj], deren die humanitären Organisationen in einem exakt symmetrischen Verhältnis zur staatlichen Macht bedürfen.“ (S.143) ‒ Denn nun ist von ‚draußen‘ keine Hilfe (mehr) zu erwarten! Das Schicksal all dieser Verfolgten und Entrechteten und Gequälten ist es, gehetzt und vertrieben zu werden: sie sind dazu verurteilt, auf Gottes (oder wessen auch… ‒ jedenfalls nicht mehr: der Menschen!) Erde, als lebende Leichname von Ort zu Ort, von Unort zu Unort zu flüchten: sie sind im Namen des (religiösen und/oder säkularen oder was weiß ich welchen) Rechts für rechtlos erklärt worden. (Siehe Mali, Ukraine, Syrien, Palästina, Afghanistan, Irak uvam…)

Der Film lässt uns einen Blick werfen in ein – afrikanisches (?!) – Märchenland, das auf unheimlich fatale Weise durchspalten ist in zwei einander scheinbar fremd und zusammenhanglos gegenüberstehende Welten: hier die Invasion von vermummten und selbsternannten Kriegern eines vorgeblich islamischen Dschihad, dort die vordergründig friedliche Welt muslimischer Einwohner eines Wüsten-Dorfs, die sich in unterschiedlichen Weisen mit den Invasoren arrangiert zu haben scheinen. Die Eröffnungsszene gibt uns ‒ den Zuschauern ‒ den Blick frei auf die Grundmetapher, die diese merkwürdige Symbiose in einer ergreifenden Szene beschreibt: Dschihadisten auf einem Pick-up rasen, wild um sich ballernd, einer in der Wüste aufgescheuchten Gazelle hinterher; man hört den Befehl des Kommandierenden: nicht töten, sondern „bloß“ hetzen…! Die Gazelle hetzt, in der Tat, in Panik durch die Sanddünen ‒ und wird tatsächlich nicht getötet, ja nicht einmal verletzt!

Die Szene wechselt: wir sehen alte Holz- und Tonfiguren traditionaler, afrikanisch-schamanistischer Religionen, die Bewaffneten als Zielscheiben dienen: Holz splittert, Ton platzt, die Brüste einer weiblichen Figurine werden weggeschossen…, schließlich liegen die Figuren zerstört im Wüstensand. Später werden Trupps von Dschihadis mit Megafonen, auf Motorrädern, auf Pick-ups durchs Dorf fahren und den Bewohnern die „neuen“ Gesetze, genauer: Verbote, eines bisher unbekannten Islams verkünden: kein Fußballspielen, kein Fernsehen, nicht Rauchen, keine Musik, kein Tanz, kein Gesang, Frauen haben sich zu verhüllen, Handschuhe und Strümpfe zu tragen, am Abend ist das Ausgehen verboten… Die Kontrolle erfolgt durch kleine Stoßtrupps, die nächtens durch die engen Gassen und über die Dächer schnüren: man sucht den Gesetzesbrecher, die Gesetzesbrecherin… und man wird fündig! Haben sich die Einwohner doch tatsächlich in ihren Häusern verkrochen, frönen aber weiter ihrem alten Lebensstil, der offenbar bisher auch des Plazet des ortsansässigen Imams besaß. (Dass der Islam durchaus den europäischen Protestantismen nahesteht, in dem Gemeindevorsteher das Recht und die Pflicht zur Auslegung der Heiligen Schrift und zur Predigt innehaben, erfahren wir en passant! Und wir erkennen, dass dieser, aus dem Westen eher als monolithischer Block angesehene Islam ein vielfältiges Puzzle unterschiedlichster Spielarten von Glauben und Sprachen darstellt. Unter dem starr gebannten (pornographischen?) Blick eines monolithisch geprägten Westlers hat sich offenbar auch im Islam Grundlegendes verändert, und es liegt keineswegs fern zu vermuten, dass die neuen Tendenzen des Islamismus durchaus als fremder Export-Import angesehen werden können.)

Der Verstoß gegen die neuen Verbote wird mit drakonischen Strafen geahndet: Peitschenhiebe wegen unerlaubten Singens, Abhacken ‚sündiger‘ Glieder (z.B. Hände), das durch eine protestierende Fischhändlerin demonstriert wird, die auf dem Fischmarkt bereitwillig ihre unbehandschuhten Hände anbietet! Später werden wir ‒ gleichsam wieder en passant ‒ Zeugen einer der erschreckendsten Strafmaßnahmen: die (authentisch überlieferte, s.u.) Steinigung eines Paars, das eine offenbar unentschuldbare „Sünde gegen Allah“ begangen hat, weil es unverheiratet (!) zusammenlebte und ein Kind gezeugt hat… (!) ‒ Dieser Szene scheint Abderrahmane Sissako dadurch das Grauen ein wenig nehmen zu wollen, dass er sie nur wenige Sekunden zeigt und zugleich filmisch in einer Parallelmontage buchstäblich gegen‒schneidet durch ‒ einen Tanz eines männlicher Dschihadisten (einer Verbotsübertretung durch den Verbreiter selbst)! Aber durch diesen Filmtrick wird das Unmenschliche dieser Szene so schreiend deutlich artikuliert, wie das bei kaum einer anderen Untat dieser selbsternannten Gotteskrieger, die uns hier vorgeführt werden, der Fall ist: der boden- und glaubenslose Zynismus des Dschihadismus tritt in der Parallelmontage durch den Vollzug von (allochtoner) Sühne und (autochtoner) Verletzung des Verbotes offen zutage. (Der Zigaretten rauchende Oberkommandierende und die sich über Fußball zerstreitenden ‚Gotteskrieger‘ (Messi versus Zidane!) nehmen sich demgegenüber aus wie Petitessen und niedliche Karikaturen.) ‒ Was aber den Film noch erschütternder macht, ist die ‒ in Erzählung und Bild ‒ scheinbar fast liebevolle Behandlung der Dschihadisten selbst: Sissakos Bildersprache steht im absoluten Gegensatz zu allen, inzwischen notorischen (westlichen) Verteufelungen aller Formen von Islam und Islamismus! Dem Zuschauer bietet sich keine Gelegenheit zur Denunziation der Untäter, ja, man kann sie sogar richtig ‚lieb‘ = ‚MENSCHLICH‘ gewinnen! Das absolut Böse tritt niemals als Satanisches auf ‒ sondern ‒ wie wir sein Hannah Arendts Eichmann-Buch oder auch aus Quentin Tarantinos «Inglourious Bastards» zur Genüge wissen ‒ als Schrecken, als Ungeheuerlichkeit in vollkommen menschlich-menschelnder Gestalt!
*** 
„Ein paar Kilometer weiter südöstlich, in Altschewsk [in der sog. Volksrepublik Lugansk, hpj], sitzt Alexej Mosgowoi, der gefürchtete Kommandeur der Brigade «Prisrak» (Gespenst). Mosgowoi sieht sich selbst als „idealistischen Poeten“. Eine seiner Ideen sind „Volksgerichte“, in denen die Bevölkerung die Rechtsfindung per Handheben ausübt. Die erste Sitzung der neuen „Institution“ fand am 30. Oktober [2014] statt. Ein der Vergewaltigung beschuldigter Mann wurde von den Anwesenden zum Tode verurteilt.“  (BBC vom 3. November 2014). „Das Urteil wurde noch nicht vollstreckt. In einem Interview in seinem Hauptquartier in Altschewsk versicherte Mosgowoi, er würde diese Volksgerichte erneut einsetzen.“  (Laurent Geslin/Sébastian Gobert: Batman und Volkstribunale, in: Le monde diplomatique, Dezember 2014; S.5)
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„[Die Steinigungsszene] war in der Tat eine recht delikate Angelegenheit ‒ was das Drehen und die Montage angeht“, lässt Abderrahmane Sissako verlauten. „Ich bin Verfechter eines Kinos, das sich weigert, aus der Gewalt ein Spektakel zu machen! Man muss daher einen Schritt zurücktreten, Distanz verschaffen, aber die Gewalt zugleich auch denunzieren! Zu Beginn des Drehs wollte ich diese Szene dokumentarisch drehen, ja, ich wollte sogar eine kleine Animation einfügen, um diese Steinigung zu zeigen. Später habe ich diesen Plan einer Dokumentation aufgegeben. Im Gespräch mit Hichem Yacoubi, einem der Schauspieler, den ich für die Rolle eines Dschihadisten ausgewählt habe, habe ich dann verstanden, wie ich mich zu verhalten habe! Er hat mir erzählt, dass er fünfzehn Jahre lang Tanzunterricht genommen hat, und ich habe mir dann vorstellen können, wie mir der Tanz die nötige Distanz verschaffen konnte, um die Steinigung zu filmen. Durch diese äußerst knappe Montage habe ich ein Mittel gefunden, um zu sagen: «Nein! Das muss man nicht sehen! Ich zeige es euch, aber schaut nicht hin!» Nach dem ersten Steinwurf darf man die Augen schließen, aber gerade dann kann man kann es erst recht sehen…“ (Le monde vom 9.12.2014)

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„Am Sonntag, dem 29. Juli 2012, im Morgengrauen, haben die Salafisten, die seit April im Norden Malis herrschen, eine besondere Schwelle bei der gewaltsamen Anwendung der Scharia überschritten: ein Mann und eine Frau wurden gesteinigt, weil sie außerhalb der Ehe ein Kind miteinander hatten. Die Eltern eines Säuglings von 6 Monaten wurden an einen Ort 20 km von der Kleinstadt Aguelhok geführt, bis zum Hals in die Erde eingegraben; unter dem Hagel von Steinen starben sie nach einigen Schreien, wie Zeugen der Exekution telefonisch an die Presseagentur AFP und die «New York Times» berichteten. Die Wüstenzone im Norden Malis, die größer ist als ganz Frankreich, ist für Journalisten geschlossen, seitdem Gruppen bewaffneter Salafisten der malischen Ansar Eddine und von «Al-Quaida für einen islamischen Maghreb» (AQMI) Timbuktu und Gao besetzt haben. Die Lage im Norden von Mali beginnt äußerst gefährlich zu werden.“ (Le monde vom 3. August 2012; dt. hpj)
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In diesem Film ist jede Szene reiflich überlegt! Das reicht von der Absurdität (dem Fußballspiel als ‚Ballett‘ ohne Ball…), über die lächerlich-monströse Ambivalenz der Henker (vgl. Messi gegen Zidane!) bis zur fast kitschig-sentimentalen Szene, bei der der Dschihadistenführer die weiblichen Schamhaare in Form von Grasbüscheln zwischen zwei Dünen (zwei weibliche Schenkel) mit dem Maschinengewehr niedermäht… „Mein Film handelt von drei Dingen: vom Verbot, vom Gericht[shof] und von der Beziehung zu den Frauen.“ (Sissako, a.a.O.) Und alle drei, für gewöhnlich meist positiv konnotierten Dinge werden bildlich und erzählerisch dementiert, weil sich keiner der Verkünder der Neuen (frohen-unfrohen) Botschaft selbst daran hält! ‒ Man kann diesen Selbst-Widerspruch, dieses Selbst-Dementi eines gläubigen Gotteskriegertums durchaus für ein ins Komische verzerrtes «Menschlich-Allzumenschliches» nehmen ‒ was uns die neuen Herren doch sehr nahebringt… ‒, aber man kann es auch als allerhöchste Steigerung, als wahrhaft göttlich-abgöttisch-abgöttliche Unmenschlichkeit (im Sinne von Julia Kristevas „Abjekt“, dem scheußlichen Ausstoß, Auswurf oder dem Abstoßen alles Menschlich-Göttlichen) lesen, die den Namen dessen, in dem ja dies alles vollzogen wird, selbst kassiert: die menschlichen Untaten sind der beste Beweis, dass der Große Andere nicht existiert! ‒ Und bei all dem stand das gesamte Filmteam noch unter polizeilichem Schutz des mauretanischen, d.h. eines islamischen, Staates!


Die zweite Hälfte des Films nimmt die Geschichte von Kidane, Satima, Toya und Issan ein: am Rande des Dorfs erblüht vor unseren ungläubigen Augen plötzlich ein Tuareg-Familienidyll, dessen fatales Ende allein durch die drohende Hintergrundmusik leicht auszumachen ist. Bevor das Schicksal seinen Lauf nimmt, wissen wir längst Bescheid ‒ aber trotzdem folgen wir gebannt der Erzählung: ein Hitchcock’sches ‚suspense‘ im besten Sinne. (Und allein das verdient schon einen Oscar!) Obgleich sich die Schlinge der Invasoren immer enger um das Zelt von Kadine legt, und trotz der bösen Ahnungen von Satima, träumt sich Kadine weiter seinen Traum vom schönen, unbeschwerten Leben … in der Wüste! Doch Sissako belässt uns nicht einfach bloß bei der häuslichen romantischen Schäferidylle und der drohenden zerstörerischen Bestie von außen (repräsentiert durch den – ach so menschlich! ‒ in die schöne, souveräne Satima verliebten Dschihadistenführer, der das Zelt umkreist wie eine liebeshungrige, aber nichtsdestoweniger tolle Hyäne). Das ‚Böse‘ hat sich inmitten des Idylls schon längst in Gestalt einer Pistole eingenistet, und als Kidane die Gitarre gegen wie Waffe vertauscht, weil ihm der konkurrierende Fischer eines seiner Lieblingsrinder („GPS“!) getötet hat und Kidane nach Eingeborenenbrauch offenbar Rache sucht, arbeitet er dem ‚Bösen‘ von draußen willentlich-unwillentlich in die Hände! Die Selbstaffektion, die Kidane dann nach seiner Gefangennahme durch die Dschihadis wegen der (versehentlichen) Tötung vor Gericht aufbietet, um den gestrengen muslimischen Kadi zu erweichen, mag der Grenze der Larmoyanz gefährlich nahe kommen (und wird dem Filmemacher, der sein Handwerk in der Sowjetunion gelernt hat ‒ aber immer schon von Sergio Leone und Akira Kurosawa beeindruckt war ‒, von einigen französischen Rezensenten auch entsprechend angekreidet); sie dient aber letztlich nur dazu, um den suspense-Effekt noch weiter, ja fast ins Unerträgliche zu steigern: Das Zwiegespräch zwischen Richter und Beschuldigtem, der, wie alle Bedrohten im Dorf, seine Schuld im frommen Glauben an Gott den Allmächtigen noch dazu freiwillig eingesteht und wie selbstverständlich annimmt, ähnelt fast einer theologischen Disputation, in der die aufrichtige (religiöse) Haltung des Gegners nie in Zweifel gezogen wird: Das Kismet ist unbezweifelbarer Konsens unter Gläubigen; es gilt für beide: „Inshallah!“ ‒ Aber auch hier ‒ und lassen wir uns wiederum nicht täuschen! ‒ stellt uns der Regisseur eine Falle: das Dreinschicken in Gott-Vaters Willen untergräbt gleichzeitig das wesentliche Fundament muslimischer Tradition: die absolute Geltung und Achtung der Vaterschaft! ‒ Wie schon durch den verliebten Dschihadistenführer und den verliebten dschihadistischen Aftervasallen, der sich eine Tochter ohne die Zustimmung der Familie (!) aneignet, wird uns auch im frommen Disput zwischen dem Vater als Kadi und dem Vater als Schuldigem die sakrosankte Institution des Patriarchen dekonstruiert und ‒ destruiert! Damit zeigt Sissako deutlich, dass der im sog. Westen seit langem zu konstatierende, anfänglich (zu Zeiten eines Sigmund Freud noch) schleichende Verfall der patriarchalischen Autorität längst schon in der gemeinhin als archi-patriarchalisch geltenden Religion des Islam angekommen ist: Judentum, Christentum, Islam ‒ all diese Spielarten des Monotheismus sind schon kontaminiert durch die Auswirkungen dessen, was einmal ein vorwitziger europäischer Denker provozierend mit den knappen Worten formuliert hat: „Gott ist todt“. Oder auch: Gott der Vater ist tot. Oder: „il vecchio con la barba“ (Jacques Lacan) ist abgetreten ‒ auch wenn er immer noch weiter in Gestalt eines oder vieler Namen als Gespenst herumspuken mag…

Buchstäblich als ein ‚deus ex machina‘ (und zwar ‚auf‘ einer Maschine, dem Motorrad ‒ korrekt also: als „deus machina vehi“ …) tritt kurz vor Schluss eine merkwürdige Gestalt auf, die uns (als moderne Form des berühmter Herrenradlers in Federico Fellinis «Amarcord» von 1973) darüber hinaus aber auch noch jene höchste und seit mindestens 1392 Jahren anscheinend intakte Trägerinstitution des Islam ‒ buchstäblich ‒ zum Abschuss freigibt: das Ehepaar, die Eltern, Vater und Mutter – die Heilige Familie! Und wir sollten beachten, dass dies hier radikaler geschieht als im Christentum, in dem die Heilige Familie ‒ Maria und Joseph ‒ von ihrem Ursprung an immer schon unter einer abgeschwächten Form, als ‚Patchworkfamilie‘ ins Spiel gekommen ist. ‒ Und diese Bemerkung darf gerade in der Zeit des christlichen Advents, in dem Abderrahmane Sissakos Meisterwerk in die Kinosäle kommt, nicht fehlen!

Die «Rahmenszene» in Sissakos Film mit der vor der Verfolgung durch ihre Häscher panisch fliehenden Gazelle in der Wüste ‒ der sich am Ende des Films noch die beiden überlebenden Kinder anschließen ‒ ist das bedrängendste und überzeugendste Bild jener neuen „neomorts“ oder „faux vivants“ (Agamben; S.173), denen auf dieser Welt der (biopolitisch) „entorteten Vorortung“ (S.185) keine Zuflucht mehr bleibt: «Kein Ort. Nirgends.»

******
Postscriptum

Dass dieser grandiose Film des Mauretaniers Abderrahmane Sissako nicht die krude Rechthaberei des Westens in der pauschalen Verurteilung von Islam, Islamismus, Salafismus und/oder Integrismus stützt, dürfte detailliert begründet worden sein. Transportiert er aber dennoch eine Hoffnung, dass das Unmenschliche zu besiegen sei?

Könnte also die fliehende Gazelle, der Eigensinn, das Widerständige der Dörfler ein Zeichen für eine mögliche Wendung zum Guten sein?

Ich glaube das nicht.

Die einzige „Rettung“ ‒ wenn man überhaupt eine in diesem Sinne versteckte Botschaft des Films sehen möchte ‒ könnte in der total aus der Geschichte und dem Film herausfallenden haitianischen brucha Zabou verkörpert sein: Sie ist die einzige Frau, die unverschleiert und furchtlos den Gotteskriegern entgegentritt, weil oder obwohl sie offenbar nicht dem Islam, vielleicht nicht einmal mehr dem Menschlichen (?) zuzurechnen ist, d.h. aus Religion und Natur herausfällt. Sie ist Singuläres…


Freilich: auch sie repräsentiert im Film nichts Ungebrochenes, keine „ganze“ Frau (im Sinne von Lacans „femme rendue toute“): als dem furchtbaren Erdbeben von Haiti Entronnene, trägt sie das Ungeheure des Menschlichen, ja alles Natürlichen in sich und mit sich: den ‒ mystisch-göttlichen ‒Wahnsinn!

Wäre demnach die „positive Botschaft“ des Films ‒ so es eine gibt ‒ eine homöopathische, im Sinne eines Wagnerischen «Parsifal»: „Die Wunde heilt der Speer nur, der sie schlug!“ ‒ ?


Filmographie:

«Timbuktu», Regie Abderrahmene Sissako, Buch Abderrahmane Sissako, Kessen Tall, Kamera Sofian El Fani, Schnitt Nadia Ben Rachid, Casting Elisabeth Guthmann, Bauten Sebastian Birchler, Musik Amin Bouhafa, Darsteller Ibrahim Ahmed (Kidane), Toulou Kiki (Satima), Abel Jafri (Abdelkrim), Fatoumata Diawara (Fatou die Sängerin), Hichem Yacoubi (Dschihadist), Kettly Noël (Zabou), Mehdi A.G. Mohamed (Issan), Layla Walet Mohamed (Toya), Adel Mahmoud Cherif (Imam), Salem Dendou (Dschihadistenführer) u.a., Frankreich/Mauretanien 2014


«Es ist wahrlich schwierig, eine Gesamtansicht der Dinge zu bekommen. Man hört dauernd, die Welt sei gespalten; aber das stimmt nicht! Es geht nicht darum, ob man dieser oder jener Religion angehört oder nicht: wir gehören alle einer einzigen Menschheit an.
Und das sollten wir nicht vergessen!»
Abderrahmane Sissako
(L’Obs, 11.12.2014)


Verwendete Literatur
Agamben, Giorgio: Homo sacer ‒ Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2002; it. 1995
Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem ‒ Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Reinbek (Rowohlt), Neuauflage 2011; amerikan. Ersterscheinung 1964
Dies.: Über das Böse: Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München (Piper) 2007
Dies.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, Totale Herrschaft, München (Piper) 1991; amerik. The Origins of Totalitarism, 1951
Auvitu, Louise: «Timbuktu»: Un film d’une beauté et d’une finesse remarquarble, in: L’Obs 14.12.2014
Balmès, François: Athéisme et nom divins dans la psychanalyse, in: Cliniques méditerranéennes 2006/1, Nr. 73, S.39-60; deutsch von Hans-Peter Jäck. Ms 2014
Bouche, Gaëlle: Un pamphlet cynique et poignant contre l’intégrisme, in: www.avis de ciné
Foerster, Lukas: Reine Unschuld gibt es nicht, in: taz vom 12.12.2014
Geslin, Laurent / Gobert, Sébastian: Batman und Volkstribunale, in: Le monde diplomatique, Dezember 2014; S.5
Grégoire, Thibaut: «Timbuktu» d’Abderrahmane Sissako, in: www.caméra obscura
Hegel, G.W.F.: Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, 1803
Heidegger, Martin: Nietzsches Wort «Gott ist tot», 1943, in: M.H.: Holzwege, Frankfurt am Main (Klostermann) 1950; S.205-263
Henry, Michel: «Ne pas m’engouffrer dans les clichés», Interview avec le cinéaste maurétanien Abderrahmane Sissako, in: Libération vom 9. 12. 2014
Ders.: «Timbuktu», Allah ou hagard, in: Libération vom 10. 12. 2014
Kristeva, Julia: Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection, Paris (Seuil) 1980; amerikan.: Powers of Horror. An Essay of Abjection, New York 1992
Lacan, Jacques: Le Séminaire, Livre XV, 1967-1968, L’acte psychanalytique (unveröffentlicht); Vorlesung vom 19. Juni 1968
Lechameau, Georges: Timbuktu, in: www.le blog du cinéma
Lépine, Cédric: Abderrahmane Sissako lève le voile sur le djihad au Mali, in: www.le blog de Cédric Lépine
Mandelbaum, Jacques: «Timbuktu» face au djihadisme, la force de l’art, in: Le monde vom 9.12.2014
Merigeau, Pasacl: «Timbuktu»: La dignité contre l’horreur djihadiste; in: L’Obs 10.12.2014
Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, KSA 4, München (dtv – de Gruyter) 1999
Ders.: Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, München (dtv – de Gruyter) 1999
Ders.: Menschliches Allzumenschliches I und II, KSA 2, München (dtv ‒ de Gruyter) 1999
Nouchi, Franck: Abderrahmane Sissako: „Lorsque la violence devient un spectacle, elle se banalise“, in: Le monde vom 9.12.2014
Rossignol, Olivier: Abderrahmane Sissako: „Timbuktu“, in: www. culturopoing
Rother, Hans-Jörg: Am Anfang war Gewalt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.12.2014
Rouillier, Henri: „Timbuktu“: Un film poétique sur l’absurdité du djihad, in: L’Obs 11.12.2014
Weissberg, Jay: Abderrahmane Sissako: «Timbuktu», in: Variety vom 14. Mai 2014
Horstmann, Friederike: Bildersturm und Misogynie, in: Perlentaucher vom 10.12.2014
Wagner, Richard: Parsifal
Wolf, Christa: Kein Ort. Nirgends. Frankfurt am Main (Suhrkamp/Insel) 2006; Erstausgabe 1979
Žižek, Slavoj: Willkommen in der Wüste des Realen. Nach den Anschlägen von New York und Washington wird Amerika gezwungen, die Welt so wahrzunehmen, wie sie ist, in: Die ZEIT Nr.39/2001





Zur Erinnerung
Der tolle Mensch. ‒ Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: »Ich sucht, Gott! Ich suche Gott!« — Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? — so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. »Wohin ist Gott?« rief er, «ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet — ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung — auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet — wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat — und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!« — Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. »Ich komme zu früh«, sagte er dann, »ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert — es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne — und doch haben sie dieselbe getan!« — Man erzählt noch, daß der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedenen Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternum deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gestellt, habe er immer nur dies entgegnet: »Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?«
Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, Stücks Nr. 125, betitelt: »Der tolle Mensch«.

Frankfurt am Main, 14. Dezember 2014
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