Kitsch und Kunst
im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit
‒
und danach
Zu: Robert Guédiguian: «Der Schnee am
Kilimandscharo»
(F 2011)
Hans-Peter Jäck
für Rafik
zum Jahr, an dem das Leben beginnt
hp
«Les enfants aiment à porter la main
sur les habits et les autres choses, qui leur
plaisent;
il faut corriger en eux cette démangeaison,
et leur apprendre à ne toucher que des yeux
Saint-Simon, 1774
Es kommt nicht
alle Tage vor, dass einem ohne Not in einem Film die Tränen kommen, ohne dass
der Regisseur und die gesamte Filmapparatur den Betrachter an eine Tränenmelkmaschine
angeschlossen haben. Die Filme eines Steven Spielberg stehen hier für eine unheimliche
Patenschaft, dazu alles, was als «Hollywood» (und in dessen Nachfolge bis heute)
gilt ‒ und seit „Vom Winde verweht“ hat
das klassische Hollywood die Melktechnik tatsächlich beträchtlich verfeinert! Der
kritische Zuschauer konnte sich dieses Gefühlskitschs nur dadurch erwehren bzw.
sich ihm entziehen, dass er sich gleichsam als Korrektiv-Sensorium das Sträuben
der Nackenhaare oder das Wachsen der Gänsehaut am Rücken antrainiert hat: «Hallo Auge!», so sagen ihm diese Härchen
bzw. Pusteln, «Vorsicht!, du lässt dich
melken!» Die Filmapparatur, die eigentlich ein optisches Dispositiv ist
(vgl. Giorgio Agamben, Was ist ein
Dispositiv, 2007), bestehend aus einer Maschine der Lichteinstrahlungsaufnahme
(Kamera) und einer Maschine der Lichtausstrahlung (Projektor), hat sich seit
Beginn der Filmgeschichte Ende des vorletzten Jahrhunderts ‒ übrigens zeitgleich
mit der Entdeckung der Psychoanalyse ‒ immer weiter auf jenes Auge konzentriert,
in dem man seit alters her den Zugang zur Seele oder zur Psyche gesehen hat.
Die Kinoapparatur wurde zur optischen Gefühlskick-Maschine perfektioniert, die
sie aber zu Beginn ihres Kreuzzugs um die Welt eigentlich schon immer war. So
verwundert es auch nicht, dass sich bis heute (siehe Martin Scorseses kühler
Familienfilm «Hugo Cabret» als
Hommage an den Mozart des Stummfilms, Georges Méliès) hartnäckig das Gerücht
hält, die Zuschauer eines der allerersten Filme der Weltgeschichte ‒ die «Ankunft des Zugs in La Ciotat» der
französischen Gebrüder Lumière ‒ habe die Leute in Panik aus dem Kino
getrieben, weil sie befürchteten, von dem ‒ auf der Leinwand gezeigten ‒ einfahrenden
Zug im Bahnhof von La Ciotat durch
die dampfende Technikmonstermaschine überrollt zu werden. (In Wahrheit ‒ und
die Wahrheit stimmt oft mit der Wirklichkeit ja überein, ohne dass wir es immer
auch gleich merken ‒ war es aber die technische Maschine der Filmprojektion,
die sie buchstäblich ‚überfahren‘ hatte.) Es wäre nun freilich unnütz, Herrn
Scorsese vom Irrtum dieser These überzeugen zu wollen, ist sie doch selbst
wiederum nichts anderes als eine Machenschaft, die, zu Werbezwecken, einer
anderen Maschine entsprungen ist: der Zeitungsrotationsmaschine, durch die noch
bis heute solche Gerüchte unter der Rubrik «Vermischtes»
(frz. «Faits divers») ihr Unwesen treiben.
So reicht eine technische Maschine einer anderen gleichsam die kalte Hand:
Technik als „Gestell“ (Martin
Heidegger) ist selbst Prothese, die wiederum einer anderen Prothese bedarf, um
im Siegeszug um die Welt laufen zu können. (Und wohl nicht zufällig ersetzt
dieser maschinelle Handschlag den menschlichen, der noch auf den alten
sozialdemokratischen Fahnen zu sehen war und in den Streiks vergangener Zeiten als
Ersatz der christlich-katholischen Monstranz durch die Straßen getragen wurde.)
Ist das Kino demnach
die vampirische Augenmelkmaschine geworden, die uns die Tränen gleichsam als
Mehrwert zum Preise einer Kinokarte abzapft, nur um uns ein nächstes Mal wieder
und von Neuem ausbeuten zu können, indem sie uns der alltäglichen Katastrophe
des wirklichen Lebens entreißt (wie das Woody Allen in seiner unvergleichlichen
«The Purple Rose of Cairo» gezeigt
hat)? Es wäre dann tatsächlich jene ‚engine
of sophistication‘, als deren Ursprung nicht zufällig das amerikanische
(Sprach- und Film-)Imperium gilt, von wo aus es die globale Weltherrschaft über
unsere Seelen angetreten hat ‒ bis nach «Bollywood»
oder auch in die moderne Türkei, die kürzlich sogar einen hollywoodesken
Sandalenfilm staatlich subventioniert hat («Fetih
1453»).
Ist mit diesen
Tränen alles Emphatische des Humanen endgültig verdampft? (Oder sollten solche
Tränen etwa die unbewusst empfundene Reue für den Kauf des Eintrittsbillets
sein?)
*
Um heute die
Kritik eines früheren Irrtums des Rezensenten im Hinblick auf die Einschätzung
der Macht der „laufenden Bilder“
deutlich zu machen, sei hier ein Selbstzitat aus den Anfängen seiner
Beschäftigung mit dem Medium ‚Film‘
erlaubt:
«So endet der Trip ins postmoderne Zeitalter mit der Moral, die ausgerechnet
die vom Menschen, nach dem Bilde des Menschen konstruierten Maschinen im
Innersten (aber wo?) als Humanum konserviert haben und die sie dem Unmenschen
nach Ablauf ihres Dienstes wiederzubringen vermögen: die Menschlichkeit, gleichsam in
Konservendosen bewahrt (eine
umgekehrte Büchse der Pandora), zur
Nahrung in Zeiten des Mangels und der Kälte. Die technik-euphorische
Exposition – Deckard zeigt schon gleich zu Beginn deutliche Anzeichen des Ekels
vor der ihn umgebenden Welt – verschiebt sich am Ende in ihr Gegenteil: die
melancholisch gebrochene Begeisterung für die Technik, die gleichsam Hegels »List der Vernunft« in sich aufgenommen
hat. Es ist die längst bekannte Moral des per
aspera ad astra. Nicht Kritik, sondern Affirmation des gegenwärtigen
Zeitalters ist demnach die Botschaft des Films.» (Hervorhebung HPJ)
Das war
einstmals das Fazit, mit dem vor nun schon 30 Jahren der Rezensent den epochemachenden
Film «Blade Runner» von Ridley Scott
begrüßt hat. Dieser Film markierte tatsächliche eine Epochenschwelle, weil hier
zum ersten und deutlichsten Male das Verschwinden des ‚modernen Menschen‘ im Zeitalter einer kosmos-umspannenden
Globalisierung auf der Leinwand in Szene gesetzt wurde. Das, was im Abendland
seit dem Zeitalter der «Aufklärung»
als ‚das Humane‘ bezeichnet (und erhofft)
wurde, wird hier in seinem Übergang ‒ in seiner Transgression ‒ vom Menschen
zum Roboter („Replikanten“) gezeigt:
der sog. ‚natürliche‘ Mensch, also der Mensch als solcher, hat sich der
Leidenschaftslosigkeit der Maschine anverwandelt, die weder Ethik noch Moral und
nicht einmal mehr „Herz“ (das noch in Fritz Langs «Metropolis» aufs Kitschigste gefeiert wurde) kennt; und es sind
gerade die künstlich geschaffenen Maschinen ‒ „Replikanten“ ‒, die in ihrem technisch-maschinellen Körper (d.h. in
ihrem Blechdosenkörper) jenes Gefühl aufbewahrt haben, was den Menschen als
Menschen eigentlich ausmachen sollte: das Mitgefühl mit der ‒ jeder! ‒ Kreatur
als einem Geschöpf Gottes. Von daher ist der zitierte Gedanke von der
Aufbewahrung des Menschlichen in einer „Konservendose“
entsprungen.
Nach nunmehr
dreißig Jahren gilt es also, Selbstkritik zu leisten. ‒ Oder besser: sich um
eine Neuausrichtung (‚re-injustment‘)
des damaligen (Vor)Urteils zu kümmern.
Und diese
Gelegenheit bietet nun der Film von Robert Guédiguian «Der Schnee am Kilimandscharo» / «Les neiges du Kilimandjaro», Frankreich 2011.
Den kundigen
Filmfreund scheint der Titel freilich zunächst auf die falsche Fährte ‒ Henry
Kings mitreißende, in westdeutscher Produktion verfilmte Männerphantasie «The Snows of Kilimandjaro» von 1952 ‒ zu
locken: geht es hier doch keineswegs um jenen einsamen Leoparden, der sich,
rätselhaft und seiner Natur zum Trotze, in den Gipfelschnee des Kilimandscharo
verirrt hat und dort jämmerlich verendete; es geht auch nicht um jenen an der Liebe
zwischen zwei (und mehr) Frauen sowie am Leiden am Abendland erkrankten stolzen
Jäger Harry Street alias Gregory Peck (ein Möchte-gern-alter-Ego seines Erfinders
Ernest Hemingway), inklusive dessen Fieberträume von der Rettung des Menschen
in Gestalt des Spanischen Bürgerkrieges; Weltliteratur und Weltgeschichte
scheinen nun endgültig passé. Eher
begegnet uns aufs Neue ein biblischer Erzengel Michael, der der Frage seines
Namens ‒ «Wer kommt Gott gleich?» ‒
nachgeht, begleitet von einer aufgeklärten Maria, der «Seherin», die in ihrer unverbogenen Haltung die Last der Welt
(mit)trägt, um ihrem Michael die Gier nach einer vorschnellen Antwort auf
seinen Namen ‒ in Form eines «Ich!/moi!» ‒ auszutreiben.
Wie schon vor
ihm Aki Kaurismäkis wundervoller Märchenfilm «Le Havre» stürzt sich Robert Guédiguians Film voll ins pralle
aktuelle Leben des globalisierungsgeschädigten Arbeitermilieus, d.h. es geht
hier einmal wieder ‚bloß‘ um den sog. einfachen Menschen in seiner Not. Dieses Mal
ist es allerdings nicht der melancholische Norden Frankreichs, der als Kulisse
dient („le noooord!“, wie das in Dany
Boons «Bienvenue chez les Ch’tis» von
2008 bedeutungsschwanger heißt); wir sind und bleiben im Süden („le midi“!): der Sonnenschein und der
blaue Himmel des Méditerranée verlassen uns die ganze Zeit des Films über
nicht. Freilich bleiben wir auch hier einem Hafen
am Meer verpflichtet, der uns den Blick ‒ und die Sehnsucht ‒ nach einem besseren
Land und Leben immer vor Augen hält. Der langgediente und im Gewerkschaftskampf
(der französischen C.G.T., d.i. die ehemals kommunistische „Confédération Générale du Travail“ ‒
eine ‚Bruderschaft‘, in der Frauen
keinen Ort nirgends haben) ergraute Michel (Jean-Pierre Daroussin) macht sich im
Auftrag des räuberischen Kapitals gewissermaßen salomonisch gerecht ans
undankbare Werk der Entlassung von 20 Werftarbeitern per Losverfahren, in dem
auch sein Name nicht fehlen darf; auf jenes Privileg eines deutschen
Betriebsratsvorsitzenden und Gewerkschaftsfunktionärs, das ihn per Amt vor
jeder Entlassung schützt, verzichtet er unter Bewahrung seiner politisch-moralischen
Solidarität mit seinen ‚Brüdern‘ selbstlos,
und das sehr zum Unverständnis seiner Gewerkschaftskollegen (so viel Kritik an klüngelhafter
Gewerkschaftskomplizenschaft muss sein!). Natürlich lost er auch seinen Namen
aus: Als Mittfünfziger hat er in diesen Zeiten so gut wie keine Chance mehr auf
Wiederbeschäftigung. Seine Ehefrau Marie-Claire (die wundervolle Ariane
Ascaride), die ihren Berufs- und Lebenswunsch als Krankenschwester für das
Leben mit einem engagierten Gewerkschafter aufgegeben hat und jetzt zum
Auskommen der Familie als Part-time-Altenpflegerin
etwas beiträgt, kennt ihren Mann und billigt vorbehaltlos seine Entscheidung:
eine moderne ‚mater dolorosa‘, die ohne
Wenn und Aber zu ihrer Entscheidung
des Verzichts auf die eigene Karriere steht und augenscheinlich jenen Hauch von
Glück verkörpert, der heute nur noch als Parodie in Lebensratgebern à la Doktor
Eckart von Hirschhausen millionenfach in die medialen Schweinetröge geschüttet
wird… und begierige Käufer/Innen findet. (Ein Zeichen dafür, wie jener
verfassungsrechtlich garantierte amerikanische Traum vom «persuit of happiness» ins Gegenteil verkehrt wurde: statt nach
Glück zu jagen, ist das Glück selbst zum Objekt der kriminalisierten Verfolgung
(vgl. „persuit“) geworden. Das
höchste Glück besteht allenfalls noch in der erfolgreichen Schnäppchenjagd nach
einem Remittentenexemplar eines solchen Glücksverheißungsbüchleins.)
Aber die ganze
Familie und alle Freunde (Gilles und Flo
– Adrien Jolivet und Anaïs Demoustier ‒ und Raoul
und Denise ‒ Gérard Meylan und Marilyne Canto) bleiben dem plötzlichen Frühpensionär
treu, ja sehen seinen selbstverschuldeten Rauschmiss sogar als gute Chance für
eigene Annehmlichkeiten: die Pergola müsste gebaut, die Enkelkinder beschäftigt
und beaufsichtigt werden… Michel (als entschlossener Drachentöter) versucht
sich selbst sogar noch in der ungewohnten Rolle des Küchenmeisters (eines
Frauen-‚Berufs‘!), um jenem Loch zu entgehen, das heute ehemals jahrzehntelangen
Berufstätigen nicht nur bei ordentlicher Pensionierung droht (und dabei scheint
er hier doch nur zu viel Kochsendungen im TV gesehen zu haben)… Wie die
mittelalterlichen Raubritter warten schon ganze Heerscharen von Industrien begierig
auf jene aus dem Arbeitsprozess entlassenen Seniorengenerationen, denen durch
den kapitalistischen Produktionsprozess, dem sie ihr Leben gedankenlos geopfert
haben, längst ihr Begehren als Subjekte ihres Lebensprozesses abhanden gekommen
ist: Kaffeekränzchen, Seniorentanz, Städtefahrten, Busreisen, Kreuzfahrten (auf
der «Costa Concordia»…) säumen die mutig
per Rollator beschrittenen steinigen Pfade jener, die sonst nur noch in Sozial-
oder Krankenkassenbudgets als ‚Durchzufütternde‘ auftauchen. Und wenn alles
nicht mehr hilft, dann kann man immerhin noch zum „Buch zur Sendereihe“ greifen: «Die
Kunst des Alterns ‒ Eine Lebensaufgabe»… (Ein Best-Seller ‒ und man beachte
dabei die unfreiwillig drohende Doppeldeutigkeit des Untertitels; ‒ es geht
hier eine Aufgabe“ i.S. des transitiven Verbs ‚aufgeben‘…) ‒
Das getreue
Umfeld sorgt am 30. Jahrestag der Hochzeit von Michel und Marie-Claire, zu dem
auch die anderen Entlassenen eingeladen werden, für so etwas wie einen fröhlichen
Start ins Frührentnerdasein: ein Ticket nach Tansania ‒ zum Kilimandscharo! ‒,
verbunden mit einer ansehnlich bestückten Reisekasse. Die Peripetie des klassischen
Dramas ist erreicht. Michel klaubt alle seine (und unsere!) Rockmusiktitel-Kenntnisse
zusammen, um dem vermeintlich englischsprachigen Reiseland auf gleicher Sprachhöhe
begegnen zu können; selbst Kisuaheli ist da angesagt, einem Land zuliebe, das
immerhin einmal «Deutsch-Ostafrika»
gewesen war! ‒ Und wie ganz nebenbei führt Guédiguian uns hier ins «Studium des
dritten Lebensalters» ein…
Es folgt der
Umschwung ‒ vulgo: die Katastrophe: Zwei
jugendliche Räuber überfallen das beschauliche Doppelkopf-Spielquartett,
drangsalieren die völlig Überraschten und entwenden die Schatztruhe. Außer der
traumatisierten Denise und einer Verletzung der linken (!) Schulter von Michel
scheint dieser Umschwung zunächst aber keine schwerwiegenden Folgen zu haben;
der spontan sich entwickelnden Übergangszeit fehlt zwar ihr geplanter
vorläufiger Höhepunkt, doch Michel und Marie-Claire lassen sich nicht aus der
Ruhe bringen.
Dafür sorgt
erst die Entdeckung des neuen Besitzers der Originalausgabe von Michels
Lieblings-Kinder-Comic, den einer der Räuber im Anfall des eigenen
Jugendlichkeitswahns hatte mitgehen lassen: zufällig sieht Michel seine Lieblingslektüre
im Bus in den Händen zweier Kinder, und deren Verfolgung bringt ihn auf die
Fährte des einen Räubers. Es ist der Bruder der beiden Jungen, Christophe
(Grégoire Leprince-Ringuet), ein ehemaliger Mitarbeiter Michels und Gast des
Hochzeitsfestes, der ebenfalls durch das Losverfahren entlassen worden war;
auch er ein Teil jener «Parallelkultur», die gerade dabei ist, zur
Mehrheitskultur der nächsten Arbeitergeneration zu werden: ein zynischer
Adoleszent, der sich durch die Vorgängergeneration um seine
bürgerlich-bourgeoise Mittelklassenexistenz gebracht sieht und nun glaubt, sein
vermeintlich ihm zustehendes Recht per Gesetzesbruch einfordern zu dürfen.
‒ Und hier
entfaltet der Film dann seine volle politische Tragikomik: ein globalisierter Kapitalismus
hat es gut dreißig Jahre lang verstanden, seinen im buchstäblichen Sinne Unterworfenen
‒ ‚Sub‒jekten‘ (lat. sub-iugo: ‚unterwerfen‘) ‒ einzureden,
dass Wirtschaft und Gesellschaft nichts anderes seien als Luftballons (oder: Michaels-Drachen…?),
die im kräftigen Aufwind des Neo-Liberalismus nichts anderes könnten als nur
immer höher und höher zu steigen (sachdienlich dazu: Peter Sloterdijks «Blasen»); politische Idealisten à la Altkommunist
Michel, denen noch die durchaus auch menschenfreundlich gemeinten Slogans vom
Kampf zur Befreiung der Arbeiterklasse und zur Vernichtung der Entfremdung (wer
aber kennt noch die «Internationale»?!)
in den Ohren klingen, haben sich nolens
volens dieser Wettervorhersage (der aufs Soziale übertragenen
Kachelmann’schen „Blumenkohlwölkchen“)
hingegeben und versucht, wenigstens den Ernst Bloch’schen „aufrechten Gang“ zur Vermenschlichung des Kapitalismus einzubringen
bzw. zu bewahren. Die Erkenntnis, dass dies zu nichts weiter dient, als zur
Übertünchung der zynischen Mechanik liberalistischen Marktwirtschaftens (in dem
der Mensch nur des Menschen Wolf ist), bringt Michel jetzt in die erste
geistig-politische Krise seines Lebens. ‒ Und die ‘68er werden im blessierten
linken Arm den Phantomschmerz wiedererkennen.
Während Christophes
Zynismus den von seiner Rechtschaffenheit überzeugten Michel noch zur Weißglut
bringt ‒ ja ihn sogar dazu hinreißen lässt, den in Polizeihaft Gefesselten zu
schlagen (und das wider Erwarten des ebenso jugendlichen wie zynischen
Polizeikommissars) ‒, kommen Michel angesichts der beiden jüngeren Brüder
Christophes, denen nun der Beschützer wegen der zu erwartenden langen
Gefängnisstrafe abhandenkommen wird, Gewissensbisse: Hat er im Hochgefühl der
Selbstgerechtigkeit des vermeintlich kameradschaftliche Solidarität
praktizierenden Gewerkschaftlers nicht seinen und keinesfalls unerheblichen
Teil zur Vernichtung einer proletarischen Existenz beigetragen? M.a.W.: hat er
sich nicht selbst zum Erfüllungsgehilfen des Kapitals gemacht!? ‒
Guédiguian
will sich keineswegs um diese selbstreflexiv-brennende Tragik herummogeln: in
einer bezeichnenden Szene auf dem Balkon des Eigenheims (mit Blick aufs
wunderschöne Mittelmeer) spielen Marie-Claire und Michel das kleine menschliche
Drama vom «anderen Schauplatz» durch:
Was hätten sie wohl von den Balkonesen gedacht, die, wohlgesättigt und
gelangweilt, vielleicht aber auch nur voll verständnisloser Neugier auf die
protestierenden Studenten von ’68 blicken ‒ und dem Spruch: „Bürger, lasst das Gaffen sein, kommt herunter,
reiht euch ein!“ nur mit Kopfschütteln begegnet wären!? ‒ Der logische Schluss:
das altersgraue Proletariat ist zum «Bourgeois!
/ Besitzbürger!» (mit dem missbilligenden
Unterton: «Kapitalist!») geworden, also
genau zu jener sozialen Spezies, die die „contestataires“,
die Rebellen von ’68, zum Ziel ihres jugendlichen Protests gemacht hatten!
Geändert hätte sich demnach nichts, außer dem Platz, den die Akteure einnehmen.
Die vielzitierte
Karriere eines Daniel Cohn-Bendit u.a. vom Hausbesetzer zum Hausbesitzer wird
in diesem Märchenfilm nun zum Motor eines polit-sozio-moralischen Umschwungs:
Sowohl Marie-Claire wie auch Michel kümmern sich um die beiden aus
globalisiertem Kapitalismus und selbstgerechtem Sozialismus hervorgegangenen
‚Waisen‘ und nehmen sie, sehr zum Unmut ihrer eigenen, mehr oder weniger
arrivierten Kinder, als Adoptivkinder an. Ein solidarischer Handschlag über die
Generationsgrenzen hinweg!
Hier verlässt
Guédiguian endgültig den Boden jeder empirischen Realität, um auf sein Ziel,
die Entfaltung einer sozialen Utopie in Zeiten des Neoliberalismus loszusteuern.
Er rettet dabei nicht nur symbolisch die nächstfolgende Generation ‒ selbst
Zyniker vom Schlage eines Christophe könnten zur Reform des Kapitalismus noch
einiges Beitragen und seine Brüder, die eigentlich die Enkelgeneration sein
müssten, entgehen durch die von der Großelterngeneration erfahrenen Solidarität
dem gesellschaftlichen Abstieg. Dank der wundervollen Schauspieler, von denen
man zu keiner Zeit den Eindruck hat, sie ‚schauspielerten‘ oder ‚chargierten‘
nur, wird dabei nicht einmal mehr unser Kitsch-Reflex (man erinnere sich der
gesträubten Haare, der Pusteln…) bedient: Wir sind zu Tränen gerührt und
erblicken in ungläubigem Staunen, wie es heute noch jemand wagt, das Märchen
vom Gutmenschentum so offen und vorbehaltlos, aber auch so verführerisch
überzeugend und mit Nonchalance (wie das nur ein Franzose tun kann) zu
verbreiten ‒, dass es uns noch nicht einmal peinlich wird! Für diese märchenhafte
Utopie lassen wir unsere Augen gerne melken…
**
Man erinnert
sich: Ludwig Hirsch, der melancholisch-depressive Wiener linke Barde, der
leider viel zu früh die Liederwaffen vor dem Gestell der menschlichen
Unbarmherzigkeit streckte, hat einmal in einem schönen Lied, «1928», von jenem Augenblick gesungen, an
dem in vielen, vielen tausenden von Jahren einmal Außerirdische auf dem nunmehr
unbewohnten Planeten Erde landen und einen noch funktionsfähigen Filmprojektor
finden ‒ mit einem Micky-Maus-Film mit Donald Duck, Kater Carlo und Goofy…! Als
sie den Film auf ihr wunderbares weißes Raumschiff projizieren, konstatieren
sie voller Bewunderung: „Sie waren
lustig, diese Menschen. Sie haben lustig ausgesehen, sie haben lustig
gesprochen, wir hätten unsere Pillen gegen die Traurigkeit völlig umsonst
überreicht!“ (Als kleine Sideshow
sei zu vermelden: das Jahr 1928 war der Beginn der großen Weltwirtschaftskrise…
und das Jahr der Erfindung der Micky Maus.)
Es sind
demnach also nicht die „Replikanten“,
welche, wie uns der «Blade Runner» noch
glauben machen wollte, die Menschlichkeit für alle Zukunft bewahren, sondern ‒
in diesem Falle ‒ bloß ein belichteter Zelluloidstreifen! (Der freilich auch in
einer Konserven-‚Dose‘ aufbewahrt wurde.)
Es wäre den
von Ludwig Hirsch besungenen „fremden,
hochgewachsenen Wesen“ aus dem All in ferner Zukunft zu wünschen, dass sie
auch noch einen anderen Film ‒ wenn auch dieses Mal digital und auf DVD ‒
finden mögen, und zwar den Film «Der
Schnee am Kilimandscharo» von Robert Guédiguian! Die Aliens hätten nach dem
Angucken nicht einmal ihren Schlusskommentar ändern brauchen. Und vielleicht
wären auch ihnen die Tränen gekommen…
***
Fazit und
Selbstkritik: Es sind also weder die Replikanten noch die Aliens, die den Gedanken
an die Menschlichkeit für alle Zukunft bewahren: Es ist der Film als Medium, der (auch, und
vielleicht heute als Einziges) das noch zu leisten vermag!
Und «Der Schnee am Kilimandscharo» ließe uns
vielleicht so ein wenig jenem Rätsel des verendeten Leoparden am Kilimandscharo
näher kommen, es vielleicht lesen lernen als Botschaft einer anderen Zeit,
einer Zeit des Anderen, die uns noch das Gespür einer «einmalige[n] Erscheinung
einer Ferne, so nah sie sein mag» mitzuteilen vermag. Es war der Philosoph und
Marxist Walter Benjamin, der in diesen Worten jenes unfassliche Phänomen definierte,
das er „Aura“ des Kunstwerks ‒ man
könnte auch sagen: des Menschlichen ‒ nannte. Und wir könnten heute folgern,
dass das Menschliche dieser „Aura“, ja, damit vielleicht sogar die ‚Aura des/vom Menschlichen‘ keineswegs
mit dem «Kunstwerk im Zeitalter seiner
technischen Reproduzierbarkeit» einfach bloß untergegangen sei (wie das der
bahnbrechender Artikel noch behauptete), sondern im technischen Medium des
Films als längst Vergangenes und zukünftig Uneinholbares immer noch am Werk ist
und bleibt.
Glücklich die
Kinder und Kindgebliebenen, die weiterhin fröhlich zugreifen!
«Der Schnee am Kilimandscharo»/«Les neiges du Kilimandjaro» ‒ Regie: Robert Guédiguian, Kamera: Pierre Milon, Musik:
Pascal Mayer, Schnitt: Bernard Sasia, Kostüme: Juliette Chanaud, Bauten: Michel
Vandestien, Darsteller: Adrien Jolivet (Gilles), Anaïs Demoustier (Flo), Ariane Ascaride (Marie-Claire), Gérard Meylan (Raoul), Grégoire Leprince-Ringuet (Christophe), Jean-Pierre Darroussin (Michel), Marilyne Canto (Denise), Robinson Stévenin Genre (Kommissar), Frankreich
2011, Verleih: Diaphana Distribution
Hans-Peter
Jäck,
Frankfurt
am Main, im Juni 2012, v4