:Hans-Peter Jäck
?“Gegenübertragungsanalyse als Weg zum „Selbst
Ein Kommentar zu "Das Schweigen der Lämmer" des Regisseurs Jonathan Demme,
USA 1990
Regie: Jonathan Demme, Drehbuch: Ted Tally nach dem Roman von Thomas Harris, Kamera: Tak Fujimoto, Schnitt: Craig McKay, Ausstattung: Gary Goetzman, Produktion: Kenneth Utt, Edward Saxon und Robert Bozman, Darsteller. Jodie Foster, Anthony Hopkins, Scott Glenn,
Die junge, psychologisch geschulte FBI-Agentin Clarice Starling (Jodie Foster) wird auf den Fall eines Serienmörders angesetzt. „Buffalo Bill“, wie sich der Psychopath selbst nennt, tötet zumeist junge Mädchen, zieht ihnen die Haut ab und versenkt sie in abgelegenen Seen. Um Hinweise auf Motive und Täter zu bekommen, will Clarice einen anderen Serienkiller interviewen, den inhaftierten Dr. Hannibal Lecter (Anthony Hopkins). Der hochintelligente, aber gemeingefährliche Lecter durchschaut Clarices Absicht - und macht sie zum Spielball seiner kühl kalkulierenden, grausamen Lust ... – Ausgezeichnet mit 5 Oscars: Bester Film, Beste Regie für Jonathan Demme, Beste Weibliche Hauptrolle für Jodie Foster, Beste Männliche Rolle für Anthony Hopkins und Bestes Drehbuch nach einer Vorlage. (Video-Waschzettel)
"Die tiefste Ursache des Unbehagens in unserer Kultur ist (...) die Polarisierung der Geschlechter. Viele hartnäckige Symptome dieses Unbehagens – Verachtung für die Bedürftigen und Abhängigen, Betonung der individuellen Selbstgewissheit, Ablehnung sozialer Formen der Fürsorge – sind auf den ersten Blick nicht an die Geschlechter-Struktur gebunden. Aber trotz der Tatsache, dass solche Einstellungen bei Frauen fast ebenso verbreitet sind wie bei Männern, sind sie doch eine Folge der Geschlechter-Polarisierung. Sie gehorchen dem Geist des Gegensatzes, der Freiheit gegen Fürsorge stellt: entweder Abgrenzung oder Fortdauer der Abhängigkeit, entweder Alleinstehen oder Schwäche, entweder Verzicht auf Autonomie oder auf das Bedürfnis nach Liebe. Zweifellos sind viele Individuen flexibel genug, weniger extreme Lösungen zu finden. Aber die Pole des Gegensatzes üben einen mächtigen Sog aus, sobald Abhängigkeit ins Spiel kommt." (Jessica Benjamin 1990;166).
Filme, besonders der US-amerikanischen Machart, sind dazu da, uns jene "extremen Lösungen" vorzuführen, von denen Jessica Benjamin spricht. Vorzugsweise stehen seit einiger Zeit einzelne Frauen im Zentrum amerikanischer Filme: zwischen die Extreme von aufopfernden Weibchen und der 'femme fatale' drängt sich immer mehr jenes Frauenbild von der sich selbst suchenden, ausbrechenden, mit herkömmlichen Konventionen brechenden Karrieristin; doch bei genauerem Hinsehen entpuppt sie sich auch wieder nur als Marionette eines "großzügigen" Mann-Vaters (vgl. Filme wie "Der Feind in meinem Bett", "Pretty Woman") und bestätigt dadurch nur die traditionelle Vorrangstellung des Mannes gegenüber einer Abwertung des Weiblichen, die unserer Gesellschaft die Etikettierung als "phallozentrisch" eingebracht hat.
Der Film "Das Schweigen der Lämmer" von Jonathan Demme zementiert diesen Stereotyp, .indem er zusätzlich Alternativen zu diesem Konzept anbietet und wieder verwirft
Im schweißnassen blauen Pulli hastet die Joggerin durch den eiskalten Morgen, vorbei an einem Baumstamm, der ihr (und uns) das Motto des Films bekannt gibt: "Hurt, Agony, Pain: Love It". Die zweifelsohne männliche Lebensregel gilt als Gesetz jener totalen Institution, dem FBI, die sich zur Aufgabe gemacht hat, alle Arten von sozialer Devianz und Dissidenz mittels einer exakten kriminologischen Verhaltensforschung katalogisieren zu lassen, um auf der Grundlage eines solchen Lexikons aller möglicher menschlicher (männlicher) Abnormitäten auf Verbrecherjagd zu gehen. Andere kriminologische Fähigkeiten werden dabei gleichsam nebenher angeeignet: physische Kondition, Reaktionsschnelligkeit, Kombinationsgabe, Logik, explosionsartige Aggression im Entscheidungsfalle. Dass in einer solchen Männergesellschaft es eine Frau besonders schwer hat, bedarf keiner Begründung mehr; nicht umsonst spielen Frauen bei der Verbrechensbekämpfung – immer noch, trotz (1991) neuer "Tatort"-Kommissarin – eine drittrangige Rolle – hinter den Männern und der Technologie. Die Motivation unseres "Sternchens" Clarice M. Starling scheint zuerst dem herkömmlichen Rachemuster zu entspringen: ihr Vater war Polizist in der amerikanischen Provinz und wurde, als sie gerade 10 Jahre alt gewesen ist, von Verbrechern angeschossen und starb nach langer schwerer Agonie. Dass ihre Mutter schon lange zuvor gestorben war und daher der Vater zum "Alles auf der Welt" geworden war, erfahren wir beiläufig. Die Identifikation mit dem Vater scheint in der frühen Kindheit und Jugend gleichsam unausweichlich gewesen zu sein – genauso wie das Rachemotiv. Dennoch liegt ihre 'Prägung' bzw. die Verstärkung ihrer männlichen Identifikationsbereitschaft in einem Ereignis in der Pubertät: nach dem Tode des Vaters zum Onkel mütterlicherseits auf eine Ranch für Lämmer und Pferde gebracht, wacht sie eines nachts vom klagenden Schreien der Opferlämmer für das bevorstehende Osterfest auf. Wie magisch angezogen, geht sie zum Stall und öffnet die Tür – und muss mit Entsetzen wahrnehmen, dass die Lämmer diesen Akt der Befreiung nicht begreifen. Vom grenzenlosen Mitleid gepackt, greift sie sich ein einzelnes Lamm und verlässt die Ranch: sie wollte "wenigstens" ein Lamm retten; doch sie wird vom Onkel eingefangen, in ein Waisenhaus gesteckt; das Lamm wird geschlachtet… Seitdem verlässt sie das Schreien der Lämmer
. in ihren Träumen nie wieder
Die doppelte Traumatisierung des Mädchens ist offensichtlich. Die erste fixiert sie in der Kindheit, weil für die, seit dem Tode der Mutter, der Vater „alles“, die ganze Welt, für sie geworden war. Die zweite ist allerdings wesentliche bestimmender, da sie sich in der Zeit der Pubertät auf dem Wege der Ablösung von einer zu großen Vateridentifizierung befunden hat. Der Film greift zur Metapher des "Schreiens der Lämmer", die in ihr gleichsam den 'Ruf der Natur' zur Weiblichkeit – der weiblichen Kompetenz der Fürsorge und des Mitfühlens (bekannt auch als Helfersyndrom) – widerhallen lässt. Das Scheitern ihres ersten Versuchs, weibliche Verhaltensformen zu üben, verstärkt demgegenüber die Vateridealisierung – und den Hass auf die Mutter (dem Onkel mütterlicherseits), die sie dem Vater machtlos ausgeliefert zu haben schien. Die
.männliche 'Karriere' ist gleichsam vorprogrammiert
Das Thema des Films ist daher die Initiation in die Männergesellschaft (oder handwerklich ausgedrückt: ihr Gesellenstück in Männlichkeit).
Da sie schon beim Studium durch besonderen Ehrgeiz und große Leistungsbereitschaft aufgefallen war und sie zudem dem gängigen Bild außerordentlicher Attraktivität entsprach, konnte es nicht ausbleiben, dass ihr Vorgesetzter Crawford – ein nicht ganz durchsichtiger Vatertypus – auf sie aufmerksam geworden war und sie mit einem Sondereinsatz betraute: einerseits sollte sie das Psychogramm eines besonders schrecklichen Straftäters erstellen, dessen krankhafte Neigung es ist, eine Ästhetisierung des Kannibalismus in physischer und psychischer Hinsicht zu perfektionieren; andererseits wollte Crawford einen Serientäter fangen, dessen Spezialität es ist, Frauen zu töten, um sie zu häuten.
Das Sternchen steht demnach zwischen Skylla und Charybdis Hannibal The Cannibal und Buffalo Bill – wie beide liebevoll genannt werden. Sie macht sich beide Aufgaben zu eigen – vor allem deshalb, weil sie dadurch ihre angestrebte Vermännlichung perfektionieren kann, um gleichzeitig ihre Aggressionen im Rahmen des staatlichen polizeilichen Handelns abzureagieren (der Film spielt hier mit dem Versatzstück des 'film noir'). Es fügt sich gut, dass Hannibal Lecter Psychologe ist – wie übrigens auch ihr väterlicher Freund Crawford (es handelt sich demnach auch noch um eine verdeckte Rivalität zweier männlicher Experten); gilt es doch vor allem, die forensische Kriminologie zu erlernen: "Ich bin hier, um etwas zu lernen; so können Sie dann selbst entscheiden, ob ich gut genug bin", lautet ihr Angebot gegenüber Lecter, sie zu seiner Schülerin zu machen. Lecters anfängliche Verachtung der jungen Frau legt sich schnell, als er ihr gegenüber die Beschützerrolle gegen einen abartigen und frauenfeindlichen Sexualtäter einnehmen kann. Das Lehrer-Schülerinnen-Verhältnis wandelt sich schnell zum Liebesverhältnis, das die zeitgenössische Verfallenheit der Geschlechter (vgl. Beck/Beck-Gernsheim 1990) und damit die Triebhaftigkeit und Grenzenlosigkeit des Geschlechtsverhältnisses im Bild festfriert: die beiden Liebenden, getrennt durch eine Panzerglasscheibe mit Luftlöchern: Romeo und Julia in der modernen amerikanischen Großstadt; ihre Beziehung, beschränkt auf Wort-(Sprache), Blick-, Geruchs- und Papier- (Brief-)Tausch, kulminiert erst kurz vor dem Showdown in einer flüchtigen, aber umso erotischeren Berührung der Finger, wo der Funken von einen zum anderen überspringt (wie bei Adam und Gott in Michelangelos Sixtinischer Kapelle des Vatikan); dies geschieht in einer völlig überdeterminierten Szene, in der nicht klar ist, wer sich innerhalb oder wer sich außerhalb des Käfigs (der Abhängigkeit) befindet.
Das Innen/Außen-Motiv bestimmt auch die interpersonelle und die intrapersonelle Beziehung der beiden: Lecters, des 'Lesers', Rat zum Aufspüren Buffalo Bills lautet: die eigene Reflexion zu sein, in sich hineinzuschauen, denn nur die vorbehaltlose Öffnung des eigenen Unbewussten versetze sie in die Lage, der mörderischen Außenwelt auf die Schliche zu kommen (hier wird die Tradition des Kriminalromans seit E.A. Poe wieder aufgenommen, verknüpft mit der psychoanalytischen Methode der Gegenübertragungsanalyse). Introspektion als Mimesis!
Die erste Prüfungsaufgabe besteht darin, ein ehemaliges Opfer von Lecter aufzufinden, dessen Name er ihr durch ein Anagramm bekannt gibt. Das Blut an ihrem Schenkel, die Wunde, die sie sich beim Einstieg in die Selfstorage-Garage zugezogen hat und das Lecter, der blutriechende Kann nibale genüsslich und triumphierend zur Kenntnis nimmt ("Hat es aufgehört zu bluten?" – "Woher wissen Sie...?"), verleugnend, löst sie den Fall durch Überwindung ihrer Passivität, ihres Ekels, ihrer Angst und sie eignet sich zugleich ein Indiz an, das sie Bill näher bringt: im Kopf des Opfers befindet sich eine Insektenpuppe des Totenkopffalters "Acherontis Styx" (der Fluss, der zum Eingang in die antike griechische Hölle führt). – "Was haben Sie bei dem Anblick empfunden?", will Lecter wissen, als ob er den zeitgenössischen Hang nach Intimität um jeden Preis ad absurdum führen wollte (vgl. R. Sennett): bis zur Kenntlichkeit verzerrt, in der Geste des Zynikers und Anteilnehmenden. Doch die Bewältigung der Angst- und Ekelgefühle ist nur die erste Stufe in der systematischen Regression, der Lecter seine neue Schülerin aussetzt. Eine andere ist die kaltblütige Beherrschung ihrer Verführungsmacht als Frau gegenüber den von Geilheit triefenden Kollegen ("Gilt es auch, wenn ein Käfer auf Sie zukommt?", fragt sie die beiden Käferschach spielenden Kollegen, besonders den einen, der nur noch nach der Frau schielen kann.). Die alltägliche, gemeine machistische Sexualität, die sich bloß in frauenfeindlichen Zoten noch artikulieren kann, stellt sich dar als Horror- und Pornovideo, für die der 'normalen' Frau die Fernbedienung zum Ausschalten abhanden gekommen zu sein scheint. Auch diese Einsicht – wie zuvor schon die des kontrollierten Umgangs mit Ekelgefühlen – teilt sie mit Buffalo Bill, dem Täter, der ihr und Lecters Opfer sein wird; dieser weiß um die weiblichen Schwächen (Helfersyndrom, Eitelkeit, Narzissmus des Körpers, Sehnsüchte der Haut, der Berührung) und macht sie zum Lockmittel für seine Opfer ("Gehn Sie nur hinein, ich schiebe ihn dann rein!"). Es gilt, die Tabus zu überwinden, die die amerikanische Gesellschaft gegenüber der Sexualität, dem Triebleben ihren Mitgliedern auferlegt; verfemt, verbannt, unter der Erde, in die Dunkelheit, hinter Gitter und Panzerglasscheiben, abgesondert – scheinbar nur! – von der provinziellen Idylle der amerikanischen Kleinstadt und dem Bürgertum, fristet die Sexualität als Monstrum ihr Dasein und gebiert Monster als Wiederkehr des Verdrängten, weil sie "im Gedächtnis" sich festgekrallt hat, "ohne Aussicht", und die Menschen von innen her determiniert und beherrscht wie Marionetten – und so kommt es, wie Roland Barthes schon 1950 festgestellt hat, dass in Amerika – im krassen Gegensatz zu Japan – aber gilt das auch noch für das heutige Japan? – der Sex überall ist, nur nicht in der Sexualität (vgl. R. Barthes 1981;46).
Da Clarice M. Starling weibliche und männliche Gefühls- und Denkmuster in ihre Aufgabe einbringt, ist sie allen männlichen Gegenspielern – mit Ausnahme Lecters – an kriminalistischem Spürsinn weit voraus. Lecter weiß dies und zeigt Spaß am grausamen Spiel der gegenseitigen Konkurrenz, da er den Ehrgeiz der Schülerin und ihre wie auch seines härtesten Gegenspielers, Dr. Chilton, Eitelkeit ausnutzt, um sich ein "Aussicht" zu verschaffen. Das „Quid-pro-quo“-Spiel zwischen Clarice und Hannibal bedient seinen psychischen Kannibalismus ebenso wie sein Allmachtsgefühl: er glaubt, alle beherrschen zu können, weil er in der Psyche der anderen 'lesen' zu können scheint. Doch das Klischee des Psychologen wird zugleich 'aufgeklärt': in Wirklichkeit handele es sich doch nur um methodische Introspektion oder vielmehr um Gegenübertragungsanalyse... Selbst Reflexion zu sein und die Dinge danach zu befragen, was sie "in sich selbst" sind (Marc Aurel) – der Fels, auf dem diese 'Erkenntnis' ruht, ist der der Tautologie. (Das „Selbst“ führt letztlich immer wieder auf die Frage nach dem anderen „Selbst“ im „Selbst“ zurück – eine unendliche Regression, die Descartes letztlich dazu geführt hat, den Kern des Selbst in dem vermeintlich einzigen Organ zu finden, das im Menschen nur einmal vorhanden sei: in der Zirbeldrüse!) Und der Film bestärkt das Publikum in derselben Bewegung, da die quasi dokumentarische Darstellung des Film-Plots – vielleicht mit Ausnahme des eher konventionellen Showdowns und Suspens’ am Schluss – die Effekte klar, objektiv und leicht durchschaubar vorführt: es gibt kein wie immer auch geartetes 'Geheimnis' im Film! (Selbst die Herkunft des Stiftes, der Lecter zur Befreiung dient, ist ganz banal: das Close-up auf den Kugelschreiber Dr. Chiltons in Lecters Gefängniszelle verweist auf die geheimnisloseste Erklärung: Chilton hat das Schreibgerät einfach nur vergessen...)
Clarice spielt demnach auch nur die interessant gemachte Rolle der konventionell durch die Männer ausgebeuteten Frau: für Crawford ist sie Minenhund und Auge ("Was sehen Sie?"), für Lecter die Gelegenheit, sich eine "Aussicht" zu verschaffen – und beide packen sie sie an ihrem verwundbarsten Punkt: ihrem Ehrgeiz und ihrer Eitelkeit. Als Beispiele ihrer Gelehrigkeit in Sachen männlicher Allmacht steht ihre Kombinationsfähigkeit hinsichtlich der Fundorte und Fundzeiten der Frauenleichen, wo sie 'sogar' den Computer, den bisher hinter 'dem Mann' zweitrangigsten Helfer der Kriminalpolizei, in den Schatten stellen kann, der eine (rein quantitative) Zufallswahrscheinlichkeit annimmt, während sie eine qualitative Gewichtung der Daten vornimmt, die sie auf die Spur des Mörders bringt. Die Hilfestellung von Lecter bezieht sich auf ein - auf den ersten Blick - recht banales Triebmoment des menschlichen Begehrens: "Wir begehren, was wir täglich sehen!" So gewappnet kann sie auch ihre Kollegen übertreffen, wenn sie im schon so oft durchsuchten Zimmer des ersten Opfers (der gute männliche Hirte aus Holz und das Schaf stehen schon bereit auf dem Fenstersims) ein bisher unentdecktes Indiz findet: hinter der kitschigen Fassade der leichtgeschürzten Spieluhrtänzerin, einem, gleich der Barbie-Puppe der Erwachsenensexualität weit entrückten Spielpüppchen – Symbol und imaginärer Spiegel der eigenen Marionettenhaftigkeit! – entdeckt sie die alltägliche Pornographie der amerikanischen Kleinstadt...
Ihr jeweiliges Meister- bzw. Gesellenstück vollbringen beide – Lecter wie Clarice – allein: Lecter befreit sich und erschlägt Polizist und Publikum (!) mit dem Polizeiknüppel: er ist Kriminologe, Kannibale und Häuter in einer Person. Clarice Starling ködert Buffalo Bill, belügt kaltschnäuzig das hysterisch schreiende Lamm ("FBI! Sie sind gerettet! Die anderen werden gleich hier sein!") und erschießt ihr männlichen Pendant: Buffalo Bill vereinigt all ihre Hassobjekte zugleich; er wird präsentiert als perverser Transsexueller ("Er hört nie damit auf, er hat Geschmack daran gefunden!", vgl. auch Lecters Verdikt: "Ihm war nicht zu helfen!"), der von einer fixen Idee besessen ist, sich einer Geschlechtsmetamorphose unterziehen zu müssen, da ihm die 'normale' Geschlechtsumwandlung in einer Klinik verwehrt worden war. Die Frau, die Männlichkeit erwerben will, erschießt den Mann, dessen Triebziel auf den Eintritt in die Weiblichkeit aus gerichtet war. (Ist nicht schon Teiresias, der spätere heilige Seher von König Ödipus, mit Blindheit von den Göttinnen geschlagen worden, weil er die unersättliche Lustempfindung der Frau erfahren und ausgeplaudert hat?!)
Die Geschlechtspolarität wird durch Clarice’ Begehren nicht in Frage gestellt, da der männliche Pol positiv besetzt ist, wohingegen der weibliche Pol – wieder einmal – entwertet wird. Die phallokratische Gesellschaft sorgt dafür – und zwar gerade durch eine ihrer offenbar prononciertesten Vertreterinnen, die Karrierefrauen –, dass die Zwangsstruktur der Geschlechtspolarität erhalten bleibt, ja letztlich sogar noch verstärkt wird. Der Film zeigt hier keinen Ausweg: die Umstrukturierung in der Pubertät wird verbaut; die Möglichkeit einer Re-Strukturierung über die prä-ödipale Phase (eine Alternative bei Jessica Benjamin 1990;168-69) zeitigt eine schlimmere Situation als zuvor: das Modell eines auf die oral-sadistische Stufe regredierten Lecter, der einen 'zivilisierten' Kannibalismus als Schreckensbild des weißen Kolonisators dorthin 'zurückträgt', wo, dem eurozentrischen Klischee entsprechend, der 'primitive' Kannibalismus – und der Mensch als Spezies… – seine Wurzeln gehabt haben soll: nach Afrika...
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Bibliografie:
BARTHES, Roland (1981): Das Reich der Zeichen, Frankfurt am Main (Suhrkamp), frz. 1970
BAUDRILLARD, Jean (1987): Amerika, München (Matthes & Seitz)
BAUDRILLARD, Jean (1983): Der symbolische Tausch und der Tod, Frankfurt am Main (Suhrkamp)
BECK, Ulrich – BECK-GERNSHEIM, Elisabeth (1990): Das ganz normale Chaos der Liebe. Frankfurt am Main (Suhrkamp)
BENJAMIN, Jessica (1990): Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht, Frankfurt am Main (Stroemfeld-Roter Stern)
SENNETT, Richard (1983): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt am Main (Suhrkamp)